Montag, 25. März 2019

Ihrer Zeit weit voraus


Über die weithin vergessene Frau, auf deren Initiative die Gleichberechtigung von Mann und Frau vor allem zurückzuführen ist, habe ich schon berichtet:

Am 19.1.1949, einen Tag nach dem entsprechenden Beschluss, die Gleichberechtigung ins Grundgesetz aufzunehmen,  hielt Elisabeth Selbert eine Rundfunkansprache, deren Text noch vollständig erhalten ist. Sie vermittelt einen packenden Eindruck von der Energie und Weitsicht dieser Frau:   

„Meine verehrten Hörerinnen und Hörer,

der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn dank der Initiative der Sozialdemokraten die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist, dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Wege der deutschen Frauen der Westzonen. Lächeln Sie nicht, es ist nicht falsches Pathos einer Frauenrechtlerin, das mich so sprechen lässt. Ich bin Jurist und unpathetisch und ich bin Frau und Mutter und zu frauenrechtlerischen Dingen gar nicht geeignet. Ich hätte frauenrechtlerische Tendenzen auch gar nicht nötig in meiner Partei, die die Gleichberechtigung der Frau seit einer Zeit des August Bebel vor Jahrzehnten, und zwar seit den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts, verfochten hat.

Ich spreche aus dem Empfinden einer Sozialistin heraus, die nach jahrzehntelangem Kampf um diese Gleichberechtigung nun das Ziel erreicht hat. In einer Synthese männlicher und weiblicher Eigenart, aufgebaut auf dieser Gleichberechtigung von Mann und Frau, sehe ich den Fortschritt im politischen, staatlichen und überstaatlichen Leben und auch in der Ehe als der kleinsten Zelle der Gemeinschaft, des Gemeinschaftslebens, einer Gemeinschaft, die aufgebaut ist auf der Zusammenkunft zweier gleichberechtigter Menschen, die ihr Ich unter eine höhere Einheit stellen.

Darüber hinaus spreche ich zu Ihnen hier als weiblicher Anwalt, der in langen Jahren beruflicher Erfahrung das Unrecht der minderen Rechtsstellung der Frau aus der Fülle des täglichen Lebens in seiner ganzen Härte und Tragik erlebt hat. Ich sehe im Geist eine lange Rede von Frauen, die im Laufe der Jahre in meiner Sprechstunde mir gegenüber gesessen haben: Geschäftsfrauen, Landfrauen und andere, die in ihrer Ehe aus irgendwelchen Gründen Schiffbruch erlitten hatten – sei es, dass der Mann der alternden Frau eine jüngere vorzog, oder weil man sich im Wandel der Zeiten entfremdet oder in den Kriegsjahren auseinandergelebt hatte. Wie groß war immer das Erschrecken dieser Frauen, die vielleicht ein ganzes Leben lang hinter dem Ladentisch gestanden hatten – als so genannte „Seele des Geschäftes“ oder des landwirtschaftlichen Anwesens, oder in der Familie den Wohlstand mit erarbeitet, in Kriegsjahren allein erarbeitet hatte.

Wenn sie dann hörten, dass sie bei der Scheidung mit leeren Händen aus dem Hause gingen, weil sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet waren, im Geschäft oder im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten – ohne allerdings an dem Gewinn oder dem Vermögen, das sie mit erarbeitet hatten, beteiligt zu sein.

Wissen überhaupt die meisten Frauen, wie rechtlos sie sind? Wissen alle die Hörerinnen, dass sie beispielsweise, dass sie bei einem Rechtsgeschäft, das über die Schlüsselgewalt hinausgeht, die Genehmigung des Mannes in jedem Fall brauchen, genau wie ein Minderjähriger? Die meisten Frauen wissen es nicht. Die Frauen, die in einer harmonischen Ehe mit einem verständigen Gatten zusammenleben, sie erfahren es vielleicht nie. Aber wie viele andere erleben es, und welchen Krisen ist heute jede Ehe ausgesetzt – bei dem ungeheuren Frauenüberschuss oder den Auswirkungen, die der Krieg mit sich brachte, der ja familienzerstörend, ehezerstörend gewirkt hat.
      
Das Bürgerliche Gesetzbuch in seinen Tendenzen widerspricht in einer ganzen Reihe von Bestimmungen der Würde und der Wertigkeit einer persönlichkeitsbewussten Frau, die heute nicht mehr aus der Obhut und der Biedermeiersphäre eines guten Elternhauses, sondern aus dem harten Berufsleben heraus in die Ehe tritt und die in den langen Jahren und besonders in den letzten Jahren die ganze Härte des Lebens erfahren hat. Können Sie daher ermessen, was die Gleichberechtigung bedeutet, und welches Empfinden der gestrige Tag gerade auch in mir ausgelöst hat?

Mein Kampf  im neuen staatlichen Leben und ganz besonders bei der Schaffung dieser Verfassung galt daher ganz bewusst der Reform des Familienrechtes und diese haben wir durch die neue Verfassung nunmehr ausgelöst. Dem neuen kommenden Bundestag wird die Verpflichtung auferlegt, bis zum Jahre 1953 – früher ist eine solche gesetzgeberische Reform nicht zu machen – die Gleichstellung der Frau zu verwirklichen und alle entgegenstehenden Bestimmungen aufzuheben. Mein Appell gilt den Frauen, die diese Zusammenhänge noch nicht gesehen haben, die politisch noch nicht erwacht sind, und eine große Aufgabe ist es für den kommenden Bundestag, auch für die Frauen, die Reform des Gesetzes mit zu erarbeiten. Die Frauen, die heute das Schwergewicht der Wählerschaft darstellen und im demokratischen Staat infolgedessen auch eine ganz besondere Verantwortung tragen, sie müssen mithelfen, eine große Zahl von weiblichen Abgeordneten muss im neuen Bundestage diese Reform durchführen mit der nötigen fraulichen Reife, mit dem klaren Blick für politische Zusammenhänge muss sie helfen, das Werk der Befreiung der Frau endgültig zu vollenden.

Und zum Schluss nun noch ein paar Worte zur Frage des unehelichen Kindes:

Wenn es uns in der Frage der Gleichberechtigung gelungen war, die anderen Parteien zu überzeugen, so ist es uns leider in der Frage der Gleichstellung des unehelichen Kindes nicht gelungen – zu meinem größten Bedauern.

Wir hatten von der sozialdemokratischen Fraktion aus beantragt, dass das uneheliche Kind dem ehelichen gleichgestellt werden sollte, ferner beantragt, dass es in Zukunft mit seinem leiblichen Vater als verwandt gelten soll, um ihm damit einen Erbanspruch zu geben. Diese Gleichstellung sollte ein altes Unrecht gutmachen – und ich muss offen sagen, ich habe mich darüber sehr gewundert, ich war sogar erschüttert darüber, wie die anderen Parteien die Augen vor den Realitäten des Lebens verschließen.

Alle diese Argumente, die die weiblichen Abgeordneten der anderen Parteien brachten, sie sind sicherlich schon einmal vor dreißig Jahren bei der Beratung der Weimarer Verfassung gebracht worden – und inzwischen ist doch eine Welt in Trümmer gegangen, inzwischen haben sich neue Lebensformen angebahnt, und wir wissen doch davon, wie die Millionen Frauen, die heute auf eine Ehe verzichten müssen, nach neuen Lebensformen suchen – und zwar auf der Grundlage – verständlicherweise – wenn sie nicht heiraten können, dann soll man ihnen nicht zumuten, auch auf das Glück, ein Lebensglück und auch Liebesglück und das Glück der Mutterschaft zu verzichten.
Das alles hat man verkannt gestern. Man diffamiert das uneheliche Kind weiter, man diffamiert die uneheliche Mutter weiter, obwohl heute viele dieser Mütter ganz bewusst Mütter sind – Mütter, die die Ehe nicht eingehen können mit dem Mann, dem sie sich hingeben, weile eben die andere Ehe im Wege steht und nach gesetzlicher Vorschrift nicht gelöst werden kann.

Wir waren der Meinung, dieses alte Unrecht müsse gutgemacht werden. Wir waren der Meinung, das uneheliche Kind dürfe kein Menschenkind zweiter Klasse sein. Uns hat sich der Gedanke aufgedrängt bei den Reden der anderen Abgeordneten, die so oft die These – und besonders denke ich da zum Beispiel an ihre Einstellung zum Schutze des keimenden Lebens, der Frage der Abtreibung – die so oft von dem göttlichen Ursprung allen Lebens reden.

Wir Sozialisten geben aber den Kampf nicht auf. Und ich hoffe, dass es uns gelingen wird, dann im kommenden Bundestag diese Gleichstellung des unehelichen Kindes zu erreichen.“

Man sollte dazu wissen:

Elisabeth Selbert holte das Abitur als externe Bewerberin nach, studierte als eine der ganz wenigen Frauen ihrer Zeit Jura und promovierte 1930 mit dem Thema „Zerrüttung als Ehescheidungsgrund“. Ihre Forderung, das Schuldprinzip bei der Scheidung abzuschaffen, wurde erst mit der Familienrechtsreform 1977 verwirklicht.

Ihre Zulassung als Anwältin 1934 erreichte sie nur durch glückliche Zufälle. Die Nazis strebten einen Ausschluss von Frauen von der Justiz an, da dies einen „Einbruch in den altgeheiligten Grundsatz der Männlichkeit des Staates“ bedeute.

Was Selbert hier nicht anspricht: Auch ihre männlichen Kollegen aus der SPD waren bis zum letzten Moment skeptisch. Erst als sie eine Öffentlichkeits-Kampagne betrieb und die Abgeordneten waschkorbweise Post von Frauen erhielten, gab man den Forderungen nach.

Den in der Rede genannten Termin zur Anpassung des bürgerlichen Rechts (vor allem des Familienrechts) ließ die Adenauer-Regierung 1953 verstreichen – hauptsächlich auf Grund von Widerständen konservativer Kreise und der Kirchen.

Erst 1958 kam ein halbherziges „Gleichstellungsgesetz“ zustande, in dem immerhin die Frauen per „Zugewinngemeinschaft“ am ehelich erwirtschafteten Vermögen beteiligt wurden und über den eigenen Besitz auch in der Ehe verfügen konnten.

Erst 1977 mussten berufstätige Frauen nicht mehr nachweisen, dass dies vereinbar mit ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter war. Die letzten männlichen Vorrechte bei der Kindererziehung bestanden bis 1979 weiter.

Die rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder wurde zum großen Teil 1970 durch das Nichtehelichengesetz erreicht (übrigens auf Druck des Bundesverfassungsgerichts). Letzte Benachteiligungen im Erbrecht wurden 2011 beseitigt (auf Druck des Europäischen Gerichtshofs).
   
Quellen:

Hier die Tonaufzeichnung der Rede:

Eine Verfilmung mit Iris Berben gibt es zu kaufen:
https://www.amazon.de/Sternstunde-ihres-Lebens-Iris-Berben/dp/B00JDC9VQK/ref=sr_1_1?s=dvd&ie=UTF8&qid=1553540703&sr=1-1&keywords=elisabeth+selbert

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