Mittwoch, 27. Januar 2021

Von Verdun bis Auschwitz

 

Zum heutigen Holocaust-Gedenktag, der an die Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau am 27.1.1945 erinnert, sprach im Deutschen Bundestag Dr. h.c. Charlotte Knobloch. Sie ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland. 

Ich hörte diese Ansprache eher zufällig in der Fernseh-Direktübertragung – und war tief beeindruckt und bewegt. Ich müsste sehr lange zurückdenken, um mich an eine andere, solch fulminante Rede zu erinnern.

Dabei ist das Konzept einfach: Charlotte Knobloch, 1932 geboren, erzählt einfach aus ihrem Leben – schnörkellos, nüchtern, ungeschminkt. Von den unfassbaren Leiden, welche sie schon als kleines Kind prägten. Und sie appelliert an die Demokraten: „Passen Sie auf auf unser Land!“

Ich fasse die Rede zusammen (mit kursiven Originalzitaten):

Ich stehe vor Ihnen – als stolze Deutsche.

Wie einst meine Großmutter Albertine Neuland, seligen Angedenkens. Mit meinem Großvater treu ihrer deutschen Heimat verbunden. Hoch angesehen in der Bayreuther Kaufmannsgesellschaft. Passionierte Wagnerianerin. Ermordet in Theresienstadt im Januar 1944.

Von meiner Großmutter habe ich die Liebe zu den Menschen geerbt – trotz der Menschen.

Ich stehe als stolze Deutsche vor Ihnen.

Charlotte Knobloch berichtet von ihrem Vater, einem dekorierten Veteran des Ersten Weltkriegs, der für Deutschland gekämpft hat. Seine Loyalität schützte ihn nicht vor den Schikanen der Nationalsozialisten.

Sie berichtet nun von ihrem eigenen Leben: Drei Monate ist sie alt, als Hitler an die Macht kommt. Mit vier Jahren erlebt sie den Weggang ihrer Mutter. Diese war zum jüdischen Glauben konvertiert und hielt dem Druck, mit einem Juden verheiratet zu sein, nicht mehr Stand. Die Großmutter erzieht sie nun. Das kleine Mädchen erlebt hautnah die wachsenden Einschränkungen und Verunglimpfungen:

Eines Nachmittags will ich zum Spielen raus. Im Hof gegenüber treffe ich mich oft mit Mädchen und Buben aus der Nachbarschaft. Heute ist das Gatter verschlossen. Ich rufe. Sie drehen sich weg. Von hinten raunt mich die Hausmeisterfrau an: »Judenkinder dürfen hier nicht spielen!«

Ab 1938 geht die Erzählerin auf die jüdische Schule. Sie hatte sich darauf gefreut. Nun sitzt die Furcht mit im Klassenzimmer. Der Schulweg ist ein Spießrutenlauf.

Die „Arisierung“ ist nun in vollem Gange. Geschäftliche und berufliche Existenzen werden vernichtet. Ihr Vater verliert die Anwaltszulassung.

„Unser Leben findet nur noch zu Hause statt. Aber Privatsphäre gibt es nicht mehr: Meist abends – wenn es dunkel und Juden verboten ist, das Haus zu verlassen – klingelt es Sturm. Männer in langen Mänteln streifen durch die Wohnung, als sei es die ihre. Porzellan, Teppiche, Besteck, Bilder, Antiquitäten, Leuchter – sie bedienen sich nach Belieben und quittieren, akkurat. Deutschland.“  

Schikanen, Bedrohungen und nicht nur psychische Gewalt sind nun an der Tagesordnung. Das kleine Mädchen erlebt, wie man ihren Vater von seiner Hand wegreißt und in ein Auto zerrt. Nach Stunden kommt er wieder zurück. Glück gehabt – noch.

Charlotte Knobloch macht nun eine aktuelle Zwischenbemerkung, die ich für sehr wichtig halte:

Lassen Sie es mich hier klar sagen: Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Schoa. Das ist inakzeptabel!

Ab November 1941 erlebt die damals Neunjährige die Deportationen in den Osten. Freunde und Bekannte verschwinden für immer. Schließlich trifft es auch ihre Familie: Entweder die Großmutter oder die Enkelin müssen auf einen Transport. Die Oma zögert keine Sekunde – sie fahre nun „zur Kur“. Auch das kleine Mädchen weiß, was das bedeutet… 

Der Vater versteckt sie auf einem fränkischen Dorf, wo sie als „Lotte Hummel“ beim ehemaligen Dienstmädchen von Verwandten die Nazizeit überlebt. Auch ihren Vater sieht sie wieder – von Misshandlungen gesundheitlich schwer geschädigt.

Ich will nicht zurück nach München! Zurück zu den Leuten, die uns beleidigt, bespuckt, uns in jeder Form gezeigt haben, wie sehr sie uns plötzlich hassten!

Aber ich habe keine Wahl. Und so begegne ich ihnen allen. Ich will weg aus dieser Stadt, aus diesem Land.

Mit 16 lernt sie ihren späteren Mann Samuel Knobloch kennen. Seine Mutter und fünf seiner Geschwister wurden im Ghetto ermordet – seinen Vater erschoss man vor seinen Augen.

Sie wollen in die USA auswandern – und bleiben schließlich doch in Deutschland. Sie erleben, dass man sich dort in den 1960-er und 70-er Jahren endlich mit der Aufarbeitung der Naziverbrechen befasst. Charlotte Knobloch engagiert sich – in der eigenen Kultusgemeinde und der Politik. Jüdisches Leben habe hierzulande wieder eine Perspektive. Aber:

„Ich muss Ihnen nicht die Chronologie antisemitischer Vorfälle in unserem Land darlegen. Sie erfolgen offen, ungeniert – beinahe täglich.

Verschwörungsmythen erfahren immer mehr Zuspruch. Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen. Ist wieder salonfähig – von der Schule bis zur Corona-Demo. Und natürlich: im Internet – dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art.“

Der Antisemitismus sei nicht nur fester Bestandteil des Rechtsextremismus, sondern auch in der extremen Linken verwurzelt – und im radikalen Islam. Knobloch erinnert an den Artikel 18 des Grundgesetzes: Wer Grundrechte dazu benützt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu bekämpfen, verwirkt sie.

Auf keinen Fall darf auf dem Rücken der Polizei ausgetragen werden, was Legislative und Judikative liegen lassen.

Ihr wichtigster Appell gilt den jungen Menschen:

„Es gibt keinen besseren Kompass als Euer Herz. Lasst euch von niemandem einreden, wen Ihr zu lieben und wen Ihr zu hassen habt!“ 

Aber auch für die vor ihr sitzende AfD-Fraktion des Bundestags hat sie eine Botschaft:

„Ich spreche Sie nicht pauschal an! Vielleicht ist die eine oder der andere noch bereit zu erkennen, an welche Tradition da angeknüpft wird. Zu den übrigen in Ihrer »Bewegung«: Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen. Und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen. Ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren!“

Wirklich?

Auf der Facebook-Seite von t-online wurde heute an den Holocaust-Gedenktag erinnert. Darunter fanden sich dann Kommentare wie diese:

Der Sinn des Gedenktages ist, uns weiter das Geld aus der Tasche zu ziehen“

„Ja und den Opfern des 30 jährigen Krieges ich fühl mich so schuldig.“

„Auf ewig schuldig, oder wie? Ich kann es nicht mehr hören!“ 

Sorry, aber weitere Zitate mag ich nicht bringen – ich kotze sonst auf die Tastatur. Nichts dazugelernt?

Kurt Tucholsky schrieb zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 durch nationalistische Freikorps-Soldaten:  Wir wollen bis zum letzten Atemzuge dafür kämpfen, dass diese Brut nicht wieder hochkommt.“

Seine Generation hat es nicht geschafft. Vergeblich war sein flammender Appell, den er 1924 nach einem Besuch der Gedenkstätten von Verdun verfasste, wo im Ersten Weltkrieg über eine halbe Million französische und deutsche Soldaten fielen:

Ist es vorbei –?

Sühne, Buße, Absolution? Gibt es eine Zeitung, die heute noch, immer wieder, ausruft: »Wir haben geirrt! Wir haben uns belügen lassen!«? (…) Gibt es auch nur eine, die nun den Lesern jahrelang das wahre Gesicht des Krieges eingetrommelt hätte, so, wie sie ihnen jahrelang diese widerwärtige Mordbegeisterung eingebläut hat? (…) Habt ihr einmal, ein einziges Mal nur, wenigstens nachher die volle, nackte, verlaustblutige Wahrheit gezeigt? Nachrichten wollen die Zeitungen, Nachrichten wollen sie alle. Die Wahrheit will keine. 

Und aus dem Grau des Himmels taucht mir eine riesige Gestalt auf, ein schlanker und ranker Offizier, mit ungeheuer langen Beinen, Wickelgamaschen, einer schnittigen Figur, den Scherben im Auge. Er feixt. Und kräht mit einer Stimme, die leicht überschnappt, mit einer Stimme, die auf den Kasernenhöfen halb Deutschland angepfiffen hat, und vor der sich eine Welt schüttelt in Entsetzen:

»Nochmal! Nochmal! Nochmal –!«

https://www.textlog.de/tucholsky-vor-verdun.html 

Heute schwenkt man – sogar vor dem Bundestag – wieder Reichskriegsflaggen. Und wer öffentlich eine Kippa trägt, ist sehr mutig. Passen wir wirklich gut auf unser Land auf? 

Ich meine, wir haben bislang vor allem Glück gehabt.

P.S. Hier das Video der Rede:

https://www.youtube.com/watch?v=EF2mdHj5gKk

Die Textfassung dazu:

https://www.juedische-allgemeine.de/politik/ich-stehe-vor-ihnen-als-stolze-deutsche/

Donnerstag, 14. Januar 2021

Aus dem alltäglichen Schul-Wahnsinn VII

 

Im Fundus des Lehrers, welcher im Mittelpunkt des letzten Artikels stand, finden sich noch einige besonders schöne Briefe von Eltern. Nun kann man über die Zustände im Bildungswesen schöne Memoranden verfassen – für mich überzeugender ist es, Originalquellen zu zitieren.

Hier also das Schreiben eines Elternpaars an die Lehrkraft in voller Länge (und natürlich anonymisiert):

Sehr geehrter Herr …,

Ihre Beanstandungen, geschrieben in das Biologieheft unseres Sohnes … am ..., finden wir nicht gerechtfertigt.

Von keinem anderen Lehrer wurde bisher seine Heftführung beanstandet, Sie übersehen anscheinend sein Bemühen, durch farbiges Ausmalen die Hefteinträge zu optimieren.

Auch berücksichtigen Sie nicht, im Gegensatz zu Ihren Kollegen, dass … als Linkshänder gegenüber den Rechtshändern beim Schreiben im Nachteil ist. Selbst die Rechtschreibfehler rechtfertigen unserer Ansicht nach nicht die Nachschrift von mehreren A4-Seiten.

Unverständlich ist uns weiter, dass Sie Hefteinträge mit Ihrer Unterschrift am 6.2. … für in Ordnung befinden, diese Einträge aber am 14.3. … nachträglich als eine „Frechheit“ empfinden. 

Wir vermuten in Ihrer überzogenen Reaktion eine Antipathie gegenüber unserem Sohn. 

Wir würden Sie daher bitten, bei weiteren „Problemen“ mit ... uns rechtzeitig zu verständigen.

Eine Kopie dieses Schreibens erhält das Direktorat der Schule und der Elternbeirat.

Mit freundlichen Grüßen …

 

Der Brief enthält verschiedene Stilmittel, die für solche Aktionen typisch sind:

·         Ein Gespräch mit der Lehrkraft wird gar nicht erst gesucht – stattdessen gibt man es ihr schriftlich und erwartet rechtzeitigen Rapport über weitere „Probleme“.

·         Eine Drohkulisse per Direktorat und Elternbeirat wird schon mal aufgebaut.

·         Man versucht, den Lehrer im Kollegium zu isolieren: Mit keinem seiner Kollegen gebe es diese Schwierigkeiten.

·         Man unterstellt sofort persönliche Voreingenommenheit.

·         Die Wirklichkeit wird stark verklärt: Das arme Kind, zudem noch Linkshänder, das versucht, sein Heft schön auszumalen… Leider stellt dies meist nur einen kleinen Teil der Tatsachen dar. 

Der angeschrieben Lehrer antwortete gleichermaßen per Brief:

 

Sehr geehrte Eltern, 

in Ihrem Schreiben vom … beschäftigen Sie sich vorwiegend mit meinem Verhalten. Dieses ist jedoch, bei aller Wichtigkeit, für den schulischen Erfolg von … weniger entscheidend als seine eigenen Verhaltensweisen. 

Da ich unterstelle, dass es Ihnen in erster Linie um das schulische Fortkommen Ihres Sohnes geht, möchte ich Ihnen den Sachverhalt unter diesem Aspekt darstellen:

Am 6.3. … versäumte (Ihr Sohn) wegen eines Arztbesuchs einige Unterrichtsstunden, darunter auch die Biologiestunde. Ab 7.3. … besuchte er die Schule wieder. In der nächsten Biologiestunde am 10.3. … schrieb die Klasse eine Stegreifaufgabe, die (…) mitschreiben sollte – wegen der Abwesenheit in der letzten Stunde aber ohne Wertung der Note.

Auffallend war, dass er insgesamt nur ein (falsches) Wort niederschrieb. Er hatte wohl in den drei Tagen, die er wieder in der Schule war, nicht den Versuch unternommen, aus dem Buch oder dem Heft eines Klassenkameraden irgendetwas nachzuholen; zudem wäre hier auch Grundwissen anzuwenden gewesen.

Als ich die Arbeit in der folgenden Stunde am 13.3. … herausgab, hatte er den Hefteintrag vom 7.3. … immer noch nicht nachgeschrieben und fragte mich auch noch, ob er die Verbesserung der Stegreifaufgabe überhaupt mitschreiben solle, da er ja gefehlt habe. Ich machte ihm sehr deutlich klar, dass er die nötiger als die anderen Schüler habe, eben weil er gefehlt habe. Zudem solle er endlich den fehlenden Hefteintrag nachschreiben. 

Ich ließ mir das Heft am nächsten Tag vorlegen, wobei ich dann feststellte, dass sich trotz meiner früheren kritischen Korrekturbemerkung (!) die Heftführung in Schrift und Rechtschreibung weiter verschlechtert hatte. Als „Frechheit“ empfand ich dabei vor allem, dass … einen Fehler, den ich ihm am 6.2. … angestrichen hatte, noch immer nicht verbessert hatte. (Dass Sie aus meinem Signum und einer Fehleranstreichung zu diesem Datum schließen, ich habe damit den Hefteintrag für „in Ordnung“ befunden, halte ich für grundlos optimistisch. Dies ist ein Sichtvermerk, wenn ich einen Schüler mündlich prüfe, er mir dabei sein Heft zeigt und ich es auf Vollständigkeit kontrolliere. … hat übrigens damals die Note 4 erhalten.)

Ich ließ ihn also einige besonders schlechte Passagen nachschreiben. Obwohl er das Heft ab dem 15.3. … wieder hatte, war dies bis zur nächsten Stunde am 17.3. … immer noch nicht geschehen. Er begründete dies damit, er habe meine diesbezüglichen Anweisungen im Heft nicht gelesen. Erst auf meine ultimative Aufforderung erledigte er das bis zum 20.3. …

Was an meinen geradezu odysseehaften Bemühungen, … zu einer lückenlosen und gründlichen Beschäftigung mit dem Unterrichtsstoff anzuhalten, überzogen sein könnte, wäre bestenfalls meine Arbeitsbelastung, wenn alle meine Schüler sich derart verhielten. 

Ob ich der einzige Lehrer bin, der seine Heftführung bisher beanstandete, ist mir derzeit nicht bekannt, da ich nicht so vollständig über den Unterricht meiner Kollegen informiert bin. Ihren offenbar vorhandenen Informationsvorsprung konnte ich in der Kürze der Zeit nur durch einen Blick in das Zwischenzeugnis Ihres Sohnes kompensieren. Bei Note 4 in allen drei Kernfächern der 5. Klasse wird in der Zeugnisbemerkung eine aktivere Einbringung in den Unterricht einiger Fächer gewünscht, sein Verhalten wird als „angemessen“ umschrieben. 

Daraus ergibt sich, dass … es wirklich nötig hat, gründlicher zu arbeiten und so bereits jetzt bestehende Lücken zu schließen. Basis hierfür ist ein Heft, aus dem er etwas lernen kann und nicht Fehler perseveriert. Ein gutes Heft kann man dann durch farbige Gestaltung optimieren, ein schlechtes – im Wortsinne – nicht.

Dass ich, und das auch noch im Gegensatz zu meinen Kollegen, auf Schreibschwierigkeiten wie Linkshändigkeit etc. keine Rücksicht nähme, ist allerdings eine Unterstellung, bei der ich mir entsprechende Korrekturbemerkungen verkneifen muss. Von Anfang an habe ich den Schülern angeboten, zwei Hefte zu führen: eines zur schnellen Mitschrift im Unterricht und eines zur häuslichen Übertragung. … hat das bisher nicht für nötig befunden – dass es hilfreich wäre, beweist die Nachschrift der gestrichenen Einträge, die wesentlich besser ausgefallen ist. 

Sollten sich bei … weitere Probleme (ohne Anführungszeichen) ergeben, die offizielle Erziehungsmaßnahmen der Schule (…) erforderlich machen, werden Sie selbstverständlich benachrichtigt. Vielleicht ist es Ihnen auch möglich, einmal (auch nach telefonischer Vereinbarung) meine Sprechstunde zu besuchen, anstatt briefliche Ferndiagnosen zu stellen. 

Dies gilt insbesondere für die Entstehung von Antipathien. Wie gerade wir Lehrer täglich erfahren, drohen diese weniger durch persönliche als durch unpersönliche Kontakte. 

Mit freundlichen Grüßen … 

 

Ich finde, diese Affäre zeigt deutlich, dass Kinder und Jugendliche in solchen Situationen zu Hause ungefähr fünf Prozent von dem erzählen, was sich wirklich ereignet hat. Das ist ja nicht schlimm, so lange Erwachsene nicht darauf hereinfallen. Ein Gespräch mit der Lehrkraft, eventuell auch in Anwesenheit des Kindes, könnte rasch Aufklärung bringen, dass jede Sache zwei Seiten hat. 

Sicherlich war der Begriff „Frechheit“ überzogen. Wer die „Live-Atmosphäre“ einer solchen Heftkontrolle im laufenden Unterricht kennt, ahnt auch, wie solche spontanen Wertungen zustande kommen. Väter setzen sich dann gerne ans Schreibgerät und verfassen derartige Beschwerdebriefe. Man sollte als Lehrer eiskalt mit Tatsachen kontern. 

Eine solche Kommunikation war in der ersten Zeit meiner Berufstätigkeit eher die exotische Ausnahme. Inzwischen ist sie deutlich häufiger. Neulich hörte ich im Fernsehen von einem Pädagogikprofessor, Corona habe zu einer „Bildungskatastrophe“ geführt. Ich darf den Ordinarius beruhigen: Der obige Schriftwechsel ist 25 Jahre alt!

Mittwoch, 13. Januar 2021

Aus dem alltäglichen Schul-Wahnsinn VI

 

Nun ist doch einige Zeit bis zur Fortsetzung einer Geschichte vergangen, welche ich in diesem Artikel erzählt habe:

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2020/11/aus-dem-alltaglichen-schul-wahnsinn-v.html

Ich fürchte, das geschilderte Muster ist nicht so selten: Konsequent (d.h. unpopulär) agierende Lehrkräfte werden im Zusammenspiel zwischen Schulleitung und beschwerdefreudigen Eltern kirre gemacht. Öfters dient dazu – wie in diesem Fall – die Herabstufung in der dienstlichen Beurteilung.

Leider begeben sich solche Kolleginnen und Kollegen dann häufig in die innere Emigration, entwickeln psycho-vegetative Leiden und quittieren irgendwann den Dienst aus Gesundheitsgründen.

Im beschriebenen Fall war das nicht so: Der Lehrer legte gegen die schlechtere Beurteilung Widerspruch ein und zog schließlich vor das Verwaltungsgericht. Natürlich wurde die Klage – bis auf einige Änderungen von Formulierungen – abgewiesen. Im Kern handelt es sich um Ermessensfragen, und da vertraut man einem Vorgesetzten halt mehr. Na also, lohnt sich eben nicht, oder? 

Im Endeffekt schon, wenn es auch mit viel Arbeit verbunden war: So ein Verfahren produziert eine Menge von Schriftsätzen, welche der Kläger meist selber formulierte und dann unter dem Briefkopf seiner Anwältin einreichte. Darauf musste natürlich der Chef (manchmal sogar das Ministerium) wieder antworten. Im Endeffekt bezahlte der Schulleiter seinen Erfolg, Recht behalten zu haben, mit einer dreistelligen Zahl von Stunden am Schreibtisch. 

Doch damit hatte er das Problem noch nicht vom Hals. Eigentlich hatte die Lehrkraft bereits die damalige Altersgrenze für eine weitere Beurteilung überschritten. Blöd nur: Auf Antrag konnte sich der Kollege nochmal beurteilen lassen. Genau mit diesem Begehren trat er schließlich auf, und obwohl sein Chef alles tat, um ihn davon abzubringen, blieb er stur. Mehr noch: Er kündigte eine weitere Klage an, sollte es diesmal wieder das schlechtere Prädikat geben. Und ließ seinen Direktor wissen, er habe im ersten Durchlauf viel Verwaltungsrecht gelernt – so einfach werde es beim nächsten Mal für diesen nicht werden!

Das Wunder geschah: Der Kollege erreichte nunmehr tatsächlich die bessere Note, welche er ja vor vielen Jahren bereits bekommen hatte. Die fällige Beförderung ging nun schneller über die Bühne.

Letztlich nutzt diese Strategie zwei übliche Schwächen von Vorgesetzten im Bildungsbereich: Sie verstehen wenig vom Verwaltungsrecht und scheuen es, ellenlange Schriftsätze zu verfassen. Eine „normale“ Beurteilung macht, einschließlich der Unterrichtsbesuche, bereits Arbeit genug.

Lehrer sind als Beamte nicht wehrlos. Man muss sich halt ein wenig mit Öffentlichem Recht befassen – ein Gebiet, um das leider viele Anwälte ebenfalls einen Bogen machen. Aber das ist keine Geheimwissenschaft und auch nicht schwieriger als das Verstehen von Kochrezepten. Und selbst wenn man mal danebenlangt, wirken Paragrafen-Zitate aus Gesetzen und Verordnungen doch ziemlich imposant…

Ich kenne aus meinem persönlichen Umfeld etliche solche Fälle. Wenn man mich nach meinem Rat fragt, antworte ich stets: Beim Staat gibt es alles nur auf Antrag. Man darf sich nicht scheuen, den zu stellen und notfalls auch rechtlich zu argumentieren. Im Zweifel durchaus lästig zu fallen. Kolleginnen und Kolleginnen, welche sich daran orientierten, erlebten teilweise unerwartete Erfolge.

Ich unterstütze damit keinerlei Querulantentum – es gibt Lehrkräfte, die über jeden Dreck jammern. Andererseits gilt für mich aber: Als Lehrer kann ich nur arbeiten, wenn man mir Autorität und eine angemessene Entscheidungsbefugnis zuerkennt. Wenn ein Chef an diesen Grundfesten rüttelt, sollte man dies nicht einfach so hinnehmen und sich rumschubsen lassen. So haben Sie sich Ihren Wunschberuf doch nicht vorgestellt, oder? 

Vor einem warne ich aber nachdrücklich: Im dienstlichen Alltag sollten Sie Konfrontationen vermeiden – Ihr Schulleiter hat immer noch das Weisungsrecht. Wenn er argumentieren kann, Sie störten den „Arbeitsfrieden“, könnte es eng werden. Möglicherweise versetzt man Sie an eine weit entfernte Schule in einer möglichst unattraktiven Gegend. Oder man hängt Ihnen sogar ein Disziplinarverfahren an. Aber Sie sind unkündbar. Ein Privileg, das nicht alle Arbeitskräfte besitzen.

Nehmen Sie sich gute Anwälte zum Vorbild: Die machen keinen Krawall, sondern ziehen höchst freundlich und verbindlich, aber knallhart ihre Klage durch: Suaviter in modo, fortiter in re! Stellen Sie klar, dass es Ihnen lediglich um die Sache geht (auch wenn Ihnen Ihr Chef heftig zum Ekel ist – das dürfte auf Gegenseitigkeit beruhen).

Und selbst wenn Sie Ihr Ziel nicht erreichen: Es ist doch ein gutes Gefühl, sich gewehrt zu haben, oder? 

Die obige Geschichte des Kollegen nahm übrigens eine weitere, für ihn völlig unerwartete Wendung: Als es sich herumgesprochen hatte, dass er gegen die Beurteilung seines Chefs vor das Verwaltungsgericht gezogen war, gab es kaum noch Beschwerden von den Eltern. Eigentlich gut nachvollziehbar: Aus dem Vorgesetzten war plötzlich ein Beklagter geworden – offenbar nützte es nichts mehr, diesen gegen die Lehrkraft zu instrumentalisieren. 

Wir kennen doch alle die hübsche Parallele: Bei den Kindern beschwerdefreudiger Eltern achtet die Schule akribisch darauf, ja keinen Fehler zu machen, welcher eine Voreingenommenheit vermuten ließe!

Und was Eltern fertigbringen, sollte Ihnen als Lehrkraft doch auch gelingen…