Samstag, 8. Februar 2020

Braune Flecken auf Blau-Gelb


Was mich hinsichtlich der Krise in Thüringen seit Tagen umtreibt: Warum fanden es zunächst weder FDP-Chef Christian Lindner noch gar sein Landesvorsitzender Thomas Kemmerich so besonders schlimm, dass sich ein FDP-Vertreter von der AfD ins Ministerpräsidenten-Amt hieven ließ? Bekanntlich bedurfte es eines größeren Bebens quer durch einen Großteil der Gesellschaft, bis man 24 Stunden später endlich zurückruderte!

Mehr aus Spaß gab ich bei Google einmal die Suchbegriffe „FDP Nazi Vergangenheit“ ein und fand ziemlich Entsetzliches: Bei „Wikipedia“ gibt es eine Liste ehemaliger NSDAP-Mitglieder, die nach 1945 wieder politisch tätig waren. 

In dieser sind FDP-Politiker auffallend häufig vertreten (in Klammern ist jeweils die Zeit ihrer NSDAP-Mitgliedschaft angegeben):

Achenbach Ernst (1937-1945): ab 1950 Landtagsabgeordneter NRW, 1957-1976 Mitglied des Bundestags, 1964-1977 Mitglied des Europaparlaments

Angermeyer Joachim (ab 1941): 1976-1980 Mitglied des Bundestags

Aschoff Albrecht (ab 1933): 1961-1965 Mitglied des Bundestags

Berg Hermann (ab 1937): 1955-1957 Mitglied des Bundestags

Bucher Ewald (bis 1945; auch SA-Mitglied): 1962-1965 Bundesminister der Justiz, 1965-1966 Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau. 1953-1969 Mitglied des Bundestags

Burckardt Richard (ab 1940): 1961-1965 Mitglied des Bundestags

Dahlgrün Rolf (1933-1945): 1962-1966 Bundesminister der Finanzen, 1957-1969 Mitglied des Bundestags

Dannemann Robert (ab 1933): 1949-1955 Mitglied des Bundestags

Dreyer Nicolaus (ab 1939): 1963–1970 Mitglied des Niedersächsischen Landtages,
1972–1980 Mitglied des Bundestages
    

Dürr Hermann (ab 1942): 1957–1965 und 1969–1980 (dann SPD) Mitglied des Bundestages

Effertz Josef (ab 1933): 1961–1968 Mitglied des Bundestages

Ertl Josef (ab 1943): 1969-1983 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 1961 bis 1987 Mitglied des Bundestags

Frank Karl (ab 1937): 1951–1960 Finanzminister in Baden-Württemberg,
1952-1964 Mitglied des Baden-Württembergischen Landtages

Köhler Otto (1933-1945): 1957–1960 Mitglied des Deutschen Bundestages

Kohlhase Hermann (1937-1945, SS-Hauptsturmbannführer, Militärrichter der Waffen-SS): 1956 bis 1958 Wirtschaftsminister in NRW, 1966-1970 Minister für Landesplanung in NRW

Lange Heinz (1938-1945, Waffen-SS): Mitglied des Landtags NRW 1954-1975, dort stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion 1966-1969 und Vorsitzender dieser Fraktion 1969-1970

Mix Erich (Mitglied der SS 1932–1934 und 1939–1945, zuletzt Standartenführer): 1958 bis 1966 Mitglied des Hessischen Landtags und von 1961 bis 1963 Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion, 1962-1966 Landtagsvizepräsident

Oberländer Theodor (1933-1945): 1953-1961 Mitglied des Bundestags, 1953-1960 Bundesvertriebenenminister; zunächst FDP, dann BHE, später CDU

Reichmann Martin (1932-1945): 1961–1969 Mitglied des Bundestages

Rieger Alfred (1931-1945, NSDAP-Kreisleiter): 1961–1970 Mitglied des Landtags NRW

Saam Hermann (1933-1945): 1952–1955 und 1960–1964 Mitglied des Baden-Württembergischen Landtages, 1965–1969 Mitglied des Bundestags,1966–1968 Mitglied des Bundesvorstandes der FDP

Schwann Hermann (1933-1945): 1953–1957 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1961 FDP-Austritt

Stegner Artur (1931-1945): 1949–1957 Mitglied des Bundestages, 1951 Landtagsabgeordneter in Niedersachsen, ab 1949 Landesvorsitzender der FDP in Niedersachsen, 1954 FDP-Austritt

Weirauch Lothar (1934-1945): 1950-1954 FDP-Bundesgeschäftsführer, später Ministerialbeamter in Bonn, angeblich Stasi-Spion

Weyer Willy (1937-1945): 1956-1972 FDP-Landesvorsitzender NRW, 1963-1975 stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender, 1950-1976 Mitglied des Landtags NRW, 1954–1958 und 1962–1975 Minister in NRW, zeitweise stellvertretender Ministerpräsident

Zoglmann Siegfried (1934-1945, ab 1942 Waffen-SS): 1963–1968 Mitglied des Landtages NRW, 1957–1976 Mitglied des Bundestages, ab 1974 CSU

Die Liste führt sogar so prominente Namen wie Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher auf, deren Mitgliedschaften allerdings ziemlich kurzfristig bzw. historisch umstritten sind.

Diskreditiert eine solche Nazi-Parteimitgliedschaft politisch für alle Zeiten? Wohl nicht – man muss da schon die genauen Umstände und vor allem die Glaubwürdigkeit einer Neuorientierung berücksichtigen.

Man kann sich zu jedem der obigen Namen auf Wikipedia die Vita genauer ansehen und findet dann Erstaunliches: Eine Anzahl dieser Herren machte aus ihrer rechten Gesinnung auch nach 1945 keinen Hehl und engagierte sich für einschlägige Projekte wie einen Stopp der Entnazifizierung oder gegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Mord, um so die Verfolgung von NS-Verbrechern nicht weiter zu ermöglichen.

Weder in der Partei noch gesellschaftlich schien dies den Politikern geschadet zu haben: Reihenweise liest man in den Lebensbeschreibungen von Ehrenbürgerschaften und Bundesverdienstkreuzen.

Auch die Vertreter anderer Parteien, vor allem CDU und CSU, kommen in der obigen Liste sehr häufig vor. Ohne Zweifel: Rechtsradikale Einstellungen und Antisemitismus waren in Deutschland nach 1945 nicht verschwunden, sondern lebten gerade in bürgerlichen Kreisen weiter. Wenn die AfD heute von „bürgerlichen Mehrheiten“ spricht, sollte man das wissen!

Allerdings trieb es die FDP vor allem in den 1950-er Jahren besonders schlimm; der Begriff „nationalliberal“ klingt da wie ein Euphemismus:

Inzwischen nahezu unbekannt dürfte der „Naumann-Kreis“ sein, eine Gruppe ehemaliger Nazis um den letzten Staatssekretär im Reichspropaganda-Ministerium von Joseph Goebbels, Werner Naumann. Dieses Netzwerk versuchte in den Jahren 1952/53, den NRW-Landesverband der FDP zu unterwandern. Obwohl diese Umtriebe klar verfassungswidrig waren, weigerten sich die deutschen Behörden, einzugreifen.

Schließlich wurde es der britischen Besatzungsmacht zu bunt: Im Januar 1953 verhaftete sie auf der Grundlage der alliierten Vorbehaltsrechte die führenden Mitglieder des Kreises. Der Bundesgerichtshof stellte die Verfahren jedoch im Sommer 1953 ein.
  
Eindrucksvoll sind die Berichte der damals sehr jungen FDP-Politiker Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Brücher:



Nun könnte man natürlich einwenden: Was soll der „Schnee von vorgestern“? Offenbar gab es in der FDP aber bis in die jüngste Vergangenheit einen deutlichen Widerwillen dagegen, sich mit diesen Verstrickungen zu befassen:

Das Auswärtige Amt beispielsweise war ja immer wieder lange in der Hand der Liberalen. Schon 1970 hatte der Außenminister Walter Scheel angekündigt, seine Behörde wolle die Nazi-Vergangenheit dortiger Diplomaten untersuchen. Dies geschah aber erst 2010 – und auch da musste sich die Behörde vorwerfen lassen, die Untersuchungen behindert zu haben.

„Das Auswärtige Amt war eine verbrecherische Organisation", sagte der Kommissionsleiter, der Marburger Historiker Eckart Conze. „Es funktionierte als Institution des nationalsozialistischen Regimes vom ersten Tag an und hat die nationalsozialistische Gewaltpolitik zu jeder Zeit mitgetragen."
Nach 1945 habe das Amt eine „hohe personelle Kontinuität mit teils schwer belasteten Diplomaten" aufgewiesen.

Wahrlich, rechtsradikales Gedankengut war in Deutschland nie verschwunden, sondern lebt vor allem in bürgerlichen, ja „staatstragenden“ Kreisen weiter fort. Und das kann es, weil man sich über Jahrzehnte weigerte, die persönlichen Verwicklungen hoher Politiker und Beamter offenzulegen. Es hat – so der Anschein – kaum einen interessiert.

Wichtig scheint es in Erfurt weiterhin nur zu sein, dass der „Kommunist Ramelow“ (so gestern wieder im Fernsehen ein FDP-Mitglied) verhindert werde.

Falls man solche Menschen mit Tatsachen noch erreichen kann: Bodo Ramelow ist so wenig Kommunist wie Christian Lindner ein Widerstandskämpfer. Der bisherige Ministerpräsident Thüringens ist Westdeutscher und wuchs in einem evangelisch geprägten Elternhaus auf. Die Karriere des gelernten Einzelhandelskaufmanns lief über die Gewerkschaft HBV (heute Verdi). Der PDS trat er erst 1999 bei. Ihn daher mit „alten SED-Kadern“ in Verbindung zu bringen, ist abwegig.

Schon 2014 gab es Gerüchte, der Thüringer CDU-Fraktionschef Mike Mohring habe versucht, in Abstimmung mit der AfD die Wahl von Ramelow zum Ministerpräsidenten zu verhindern. Damals gelang das noch nicht.      

Dazu passt ein Wort der „großen alten Dame“ der Liberalen, Hildegard Hamm-Brücher, die 2002 wegen anti-israelischer Tendenzen in ihrer Partei aus der FDP austrat:

„Es sind traditionell männliche Prinzipien, die auf Macht und Vorteil bedacht sind und nicht auf Ausgleich und Fairness. Das muss ja die Verkümmerung seelischer Kräfte zur Folge haben. Von »Partnerschaft« wird da allenfalls in Sonntagsreden gesprochen.“
 

Mittwoch, 5. Februar 2020

Die Schande von Erfurt


Vor ziemlich genau 90 Jahren, am 23.1.1930, kam es zur ersten deutschen Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP. Wo? In Thüringen.

Die rechtsbürgerlich-nationalsozialistische Koalition verfügte über 28 Mandate (davon 6 der NSDAP) bei insgesamt 53 Landtagsabgeordneten und bestand aus der Deutschen Volkspartei, der Deutschnationalen Volkspartei, dem Thüringer Landbund, der Reichspartei des Deutschen Mittelstandes sowie der NSDAP.
Innenminister wurde der Nationalsozialist Wilhelm Frick, der dieses Amt später auch im Deutschen Reich bekleidete. Ministerpräsident war Erwin Baum vom Thüringer Landbund.

Am 29.3.1930 wurde ein Ermächtigungsgesetz beschlossen, mit dem die Regierung für ein halbes Jahr per Verordnung ohne parlamentarische Kontrolle agieren konnte. Der Minister für Inneres und Volksbildung, Wilhelm Frick, konnte auf diese Weise sozialdemokratische und kommunistische Beamte und Bürgermeister entlassen, sie durch Nationalsozialisten ersetzen, eine neue Landespolizei formieren und Erscheinungsverbote für Zeitungen verfügen. Er verfasste den Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“, um die „Verseuchung durch fremdrassige Unkultur“ zu unterbinden. Eine Vielzahl von Theaterveranstaltungen und Filmvorführungen mit pazifistischen Inhalten wurden untersagt.

Bei der nächsten Landtagswahl am 31.7. 1932 siegte die NSDAP mit 42,5 Prozent der Stimmen. Neuer Ministerpräsident wurde der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel.

Am 5.2.2020 wurde im Thüringer Landtag – statt des bisherigen Amtsinhabers Bodo Ramelow (Die Linke) – der FDP-Fraktionsvorsitzende Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. In Kenntnis dieser Tatsache nahm er die Wahl an.

Für den entscheidenden 3. Wahlgang hatte die AfD wieder den parteilosen Kommunalpolitiker Christoph Kindervater ins Rennen geschickt. Dieser erhielt jedoch überraschenderweise keine einzige Stimme. Damit ist die geplante Weiterführung der rot-rot-grünen Landesregierung gescheitert.



Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) sagte dazu: „Ein Hauch Weimar liegt über der Republik. Ich bin ein alter Mann, 87 Jahre alt. Mir stecken die Schrecken der Nazis und übrigens auch der Nachkriegszeit, in der das Naziwesen noch lebendig war, tief in den Knochen. Und ich sehe in dieser Entscheidung in Thüringen einen Schritt in Richtung Weimar." Die Parallele bestehe darin, dass der Rechtsextremismus wieder tief aus der Mitte des Bürgertums komme.

Ich ahne, woran der gestandene Alt-Liberale denkt:

Am 24.3.1933 stimmte der Deutsche Reichstag in der Kroll-Oper über das von der Reichsregierung eingebrachte Ermächtigungsgesetz ab, welches die Rechte des Parlaments faktisch außer Kraft setzte.

Die Abstimmung endete mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für das Gesetz:

Die 81 Abgeordneten der KPD waren bereits verhaftet oder untergetaucht.
Von den 120 SPD-Reichstagsmitgliedern waren 26 inhaftiert oder geflohen.
Es wurden 538 gültige Stimmen abgegeben. Lediglich die 94 anwesenden Abgeordneten der SPD stimmten mit Nein. Alle anderen Vertreter der bürgerlichen Parteien gaben dem Gesetz ihre Zustimmung – oft eingeschüchtert durch Bedrohungen gegen sie oder ihre Familien. Insgesamt gab es 444 Ja-Stimmen. Die NSDAP allein verfügte nur über 288 Reichstagsmitglieder.

Für die Liberalen (Deutsche Staatspartei, 5 Abgeordnete) begründete das Ja damals der Fraktionsvorsitzende Reinhold Maier:

„Wir fühlen uns in den großen nationalen Zielen durchaus mit der Auffassung verbunden, wie sie heute vom Herrn Reichskanzler vorgetragen wurde […]. Wir verstehen, dass die gegenwärtige Reichsregierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört arbeiten zu können […]. Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“

Bis heute ist jeder Sozialdemokrat (also auch ich) stolz auf die tapferen 94 SPD-Abgeordneten, die damals – bereits umstellt von SS- und SA-Männern – als einzige gegen die Abschaffung der Demokratie stimmten. In seiner legendären Rede sagte damals der Fraktionsvorsitzenden Otto Wels:

„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. […]
Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz_vom_24._M%C3%A4rz_1933

Otto Wels (1873-1939)

Ich hatte eigentlich gehofft, dass es in meinem Leben selbstverständlich sei und bleibe, Rechtsradikalismus abzulehnen. Dass es keinen Mut mehr brauche, gegen Nazis zu sein. Offenbar habe ich mich geirrt.

Wie es Willy Brandt einmal ausdrückte: „Wir waren schon mal weiter.“