Donnerstag, 18. April 2019

Die autogen Empörten


„Es wird immer gesagt: Der Glaube versetzt Berge. Ich denke, das stimmt nicht ganz: Bagger versetzen Berge.“
(Vince Ebert)

Momentan beschäftigen sich natürlich viele Einträge in den sozialen Medien mit dem Brand der Pariser Kathedrale Notre Dame. Gestern las ich einen Facebook-Post, über den ich mich derartig ärgerte, dass ich vergaß, ihn zu kopieren.
Beinahe wörtlich lautete er:

„Finde den Fehler!
Für den Neuaufbau einer Kirche werden hunderte Millionen gespendet, aber für die Kinder in den Entwicklungsländern gar nichts!“

Nun gut. Dass ich seit über 30 Jahren der Deutschen Welthungerhilfe jährlich einen vierstelligen Betrag zukommen lasse, ist offenbar eine Ausnahme…

Ich habe auch keine Lust, über die Sinnhaftigkeit dieser Spenden zu debattieren oder mich über die Mängel der Entwicklungshilfe zu verbreiten. Das alles kann man selbstredend so oder anders sehen.

Was mich allerdings bis zur Schmerzgrenze nervt, ist die um sich greifende Unsitte, nun wirklich an jeder an sich positiven Nachricht einen Empörungsgrund zu finden – auch wenn er fernab vom Thema liegt. „Whataboutism“ nannte man die Argumentationsweise der ehemaligen UdSSR, jeder Kritik am eigenen System mit Vorwürfen an den Kapitalismus zu begegnen:

Für mich gilt: Wenn ein bedeutendes Kulturdenkmal beschädigt wird, ist es prinzipiell eine gute Idee, es zu restaurieren. (Die Taliban mögen es anders sehen…) Mit den schlimmen Verhältnissen in der Dritten Welt hat das genau nichts zu tun! Das ist ein anderes Problemfeld, welches man gerne beackern darf. Mich beschleicht allerdings der Verdacht: Die Zeitgenossen, welche ihren Weltverdruss mit zwei knackigen Sätzen auf Facebook heraushauen, spenden vermutlich keine 5 Euro – egal wofür. Der Grund ist klar: Hat ja doch alles keinen Sinn in einer Welt, welche abgrundtief schlecht und nicht mehr zu retten ist (und schont das eigene Portmonee).

Offenbar glauben bei uns immer mehr, eine Meinung sei umso überzeugender, mit je mehr verbalen Kraftausdrücken man sie spickt. Ein Beispiel habe ich auf der FB-Seite meines Berliner Tangofreunds Thomas Kröter gefunden, den ich in seiner Wortwahl als sehr besonnen kenne. Und es geht bei ihm auch überwiegend um Musik, Kultur und verwandte Themen. Dennoch fand ich in der Zeit vom 12.-17.4.19 bei den Kommentatoren seiner Seite folgende Formulierungen:

„dümmliche und dürftige Ausrede für das Versagen“
„Gaffer-Kultur“
„Quatsch!“
„dummes Gelabere“
„Jeden Scheiß“
„Die Schrottflieger der Bundeswehr“
„so ein Unsinn“
„Wenn nicht, dann lieber erst einmal still schweigen!“
„bescheuerte Blödelei“
„gruseliges Sakrileg“
„peinlich“
„Es wird immer blöder.“
„schäbig“
„missverstanden und missbraucht“
„denunziert ihn“
„die Rüpel in allen Verkehrsarten“
„ist ein Idiot“
„totally hypocrite“ („völlig scheinheilig“)
„einen so realitätsfernen Unsinn“

Bei den Debatten ging es beileibe nicht um Weltuntergänge, Neonazis oder andere Katastrophen, sondern um Themen wie defekte Regierungsflieger, das Gesangstrio Peter, Paul & Mary, Greta Thunberg, sexuelle Übergriffe, Rollenwechsel im Tango und das Fahrradfahren.

Kein Wunder, wenn Kröter feststellt: „Es gibt Tonlagen, denen möchten manche Menschen nicht ausgesetzt sein. Ich kann's verstehen“.
Nur ging es da nicht um die obigen Äußerungen, sondern um diesen Artikel von mir:

Ich sei eben, auch dieses Zitat ist aus der obigen FB-Debatte, ein „verbaler Scharfschütze“.  Wahrscheinlich hat der Autor der Bezeichnung sogar recht: Ich bin tatsächlich ein Freund pointierter Aussagen, die ich allerdings in einen ausführlichen Sachzusammenhang stelle – und dann möglichst mit ironischem Florett kommentiere. Im Internet gilt das wohl als unmännlich – wieso detailliert begründen und sorgfältig zielen, anstatt mit der abgesägten Schrotflinte mit ein, zwei Sätzen ins Blaue ballern?

In einem der reichsten und sichersten Ländern der Welt breitet sich immer mehr eine hysterische Dauererregung aus: über Feinstaub an Silvester, dritte Klos in Fastnachtsreden und Fleischfresser (ganzjährig).

Öfters verfolge ich auf Facebook naturheilkundliche Seiten. Gerade als Befürworter der komplementären Medizin finde ich es oft entsetzlich, mit welcher Vorurteils-Beladenheit da „argumentiert“ wird. Lieblingsthemen sind unter anderem Impfungen und Antibiotika, welche natürlich Teufelswerk sind.

Vielleicht sollte man sich einmal mit nüchternen Fakten wie der Lebenserwartung beschäftigen: 1875 (also in der Nähe des Geburtsjahrs meiner Großmutter) lag sie in Deutschland bei knapp 40 Jahren – heute haben neugeborene Jungen die Aussicht, etwa 78, Mädchen zirka 83 Jahre alt zu werden. Und das trotz Glyphosat , Stickoxiden und der bösen Pharmaindustrie!

Grund sind natürlich vor allem die besseren (schul-)medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, nicht zuletzt die „bösen“ Antibiotika und Impfungen:

Anfang des 20. Jahrhunderts waren die häufigsten Todesursachen in der westlichen Welt Durchfall, Lungenentzündung und Tuberkulose. Die größte Opfergruppe war unter fünf Jahre alt.
Man kann es nicht deutlich genug sagen: Erst Antibiotika haben die meisten, einst tödlichen, bakteriellen Infektionen zu Bagatellen gemacht. Infektionskrankheiten spielen im Reigen der häufigsten Todesursachen in der industrialisierten Welt kaum mehr eine Rolle (ein bis fünf Prozent). In den Entwicklungsländern sind sie dagegen mit bis zu über 40 Prozent nach wie vor die häufigste Todesursache.“

Gegen die Masern helfen diese Mittel allerdings nicht, da sie von einem Virus ausgelöst werden. Impfen dagegen wäre sinnvoll, wenn es die autogen empörten Verschwörungstheoretiker nicht gäbe:

„Die Masern breiten sich in diesem Jahr nach UN-Angaben weltweit sehr stark aus. Von Januar bis Mitte April 2019 seien nach vorläufigen Daten 112.000 Fälle der schweren Infektionskrankheit in 170 Ländern erfasst worden, teilte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) (…) mit. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres seien 28.000 Fälle in 163 Staaten registriert worden, hieß es.
Die WHO macht einen geringen Impfschutz für die starke Ausbreitung der Masern mitverantwortlich. Viele Menschen in abgelegenen Gebieten oder in Konfliktregionen seien für Impfteams schwer oder überhaupt nicht zu erreichen. Zudem habe das Vertrauen in die Immunisierung in vielen Ländern abgenommen.“

Da ist auf Facebook von den „armen Kindern in den Entwicklungsländern“ nicht mehr die Rede – die können doch froh sein, nicht geimpft zu werden…

Wahrscheinlich liegt es an meinem Alter, dass ich bei solchen Themen immer wieder an meine Großmutter denken muss: Sie wuchs auf einem winzigen Bauernhof im Erzgebirge auf, ihr Vater war im Nebenberuf Gemeindearbeiter. Für mehr als 6 Klassen „Volksschule“ reichte das Geld nicht – und selbst da kam sie manchmal zu spät, da sie vor dem kilometerlangen Fußweg noch die Kühe auf die Weide treiben musste. Der Verlust eines ihrer beiden Söhne im 2. Weltkrieg löste bei ihr eine schwere rheumatische Erkrankung aus. An meinem Kinderwagen lernte sie wieder laufen.

Sie war eine sehr kluge Frau, die heute sicherlich eine höhere Schule besucht und das als wertvolles Geschenk mit riesigen Möglichkeiten empfunden hätte. Ob sie daher freitags den Unterricht zugunsten der Weltrettung verlassen und stattdessen für die Rettung des Klimas demonstriert hätte, wage ich zu bezweifeln. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie meine Erklärungen dazu überhaupt verstanden hätte…

Daher würde ich den alles überblickenden und verurteilenden Facebook-Schreibern gerne raten: Fangt mit der Rettung der Welt doch in eurer nächsten Umgebung an – und zwar mit Optimismus, anstatt alle Leser an der eigenen schlechten Laune teilhaben zu lassen.

Und speziell noch ein Tipp an die im Tango häufigen Single-Männer: Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1993 beträgt die Lebenserwartung geschiedener Männer zirka 60, bei dauerhafter Partnerschaft dagegen etwa 71 Jahre!


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