Donnerstag, 15. Juli 2021

Von Feierkultur, Corona und Krokodilstränen

 

Ich bemühe mich, zunächst sachlich zu bleiben:

Gestern meldete der „Pfaffenhofener Kurier“ unter der Überschrift „Party, Palmen und Pandemie (14.7.21, S. 19), mehrere Abiturienten des dortigen Gymnasiums seien von einer Schüler-Fahrt nach Kroatien mit einer Corona-Infektion zurückgekehrt. Obwohl man sich immer wieder negativ getestet habe. Nun befänden sie und Angehörige sich in Quarantäne und könnten nicht einmal an der Abiturfeier teilnehmen.

Die werde es eh nicht geben, so gestern ihr Schulleiter: Er könne sich nicht vorstellen, in der gegenwärtigen Situation eine Abiturrede zu halten – man spreche hier schließlich vom Reifezeugnis. „Ich kann denen jetzt einfach nicht erzählen, wie reif sie sind."

https://www.donaukurier.de/lokales/pfaffenhofen/Corona-von-Abifahrt-mitgebracht-Zeugnisverleihung-in-Pfaffenhofen-abgesagt;art600,4794167

Gut 700 Euro kostete die fünftägige Sause auf einer kroatischen Halbinsel, welche der Veranstalter wohl im Ganzen gemietet hatte – zirka 2000 Abiturienten machten da Party. Es gibt sogar schöne Videos zum Angebot, das bislang schon „über 230 Schulen“ wahrgenommen hätten.

https://www.youtube.com/watch?v=P_s0jdpnYJU&t=2s

Na gut, von Masken oder Mindestabständen ist da nichts zu entdecken. Was mich – im Gegensatz zu berufsmäßigen Journalisten – interessierte: Ist dies in Kroatien überhaupt erlaubt? In den Reiserichtlinien des Auswärtigen Amts für dieses Land heißt es:

„Es gilt eine Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften und Krankenhäusern sowie im Freien überall dort, wo der Mindestabstand von 1,5 Metern nicht eingehalten werden kann. Bei Nichtbeachtung der Maskenpflicht drohen Bußgelder.“

https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/kroatiensicherheit/210072

Na, immerhin! Und – so die offizielle Seite der kroatischen Regierung – man bestehe bei Einreise auf Impfung oder Testung – allerdings:
„Ausnahmen von der Pflicht des Besitzes eines gültigen und geltenden digitalen EU-COVID-Zertifikates oder von den oben genannten Verpflichtungen sind: (…) Schüler, Studenten und Praktikanten“

https://mup.gov.hr/uzg-covid/deutsche/286213

Zu zeitnahen Auskünften sieht sich das Reiseunternehmen momentan nicht in der Lage. Das Gegenteil hätte mich auch gewundert.

Solche Infektionen scheinen bei diesen Touren öfters vorzukommen. So berichtet heute der „Münchner Merkur“ über einen ganz ähnlichen Fall am Gymnasium Geretsried. Zart wird angedeutet, vor Ort habe man Testungen eher lax gehandhabt. Und natürlich betont die Schulleitung, solche Privatreisen lägen außerhalb ihrer Verantwortung:

https://www.merkur.de/lokales/wolfratshausen/geretsried-ort46843/corona-infektion-abifahrt-schueler-inzidenz-kroatien-schnelltest-urlaub-geretsried-bad-toelz-wolfratshausen-90858646.html

Um meine lange angestaute Destrudo endlich abzubauen: Da fährt also ein beträchtlicher Teil unseres zukünftigen geistigen Proletariats in vollgestopften Bussen in ein Land, in dem die Corona-Bestimmungen offensichtlich weniger streng beachtet werden als hierzulande, um dort mit 2000 Kollegen ähnlichen Bildungsniveaus abzufeiern. Und ist dann erstaunt, sich infiziert zu haben. Aber man wollte der Oma doch eh von der Reise noch etwas Schönes mitbringen. Und wenn es nur eine Vorverlegung des Erbfalls wäre…

Leider ist ein solches Maß an geistiger und sittlicher Verirrung nur denkbar mit den Passivitäten der Schulleitungen. Immerhin hat der Pfaffenhofener Direktor – wenn auch Fünf vor Zwölf – noch Reste an Konsequenz bewiesen, indem er die Abiturfeier absagte.

Sein Kollege an einem Nachbargymnasium dagegen sieht die Situation versöhnlicher: Der will die Zeugnisverleihung stattfinden lassen, natürlich ohne die Infizierten, welche aber per Livestream teilnehmen könnten. „Jetzt waren sie so lange in einer Blase. Aber ich habe auch Verständnis. Ich mache denen jetzt nicht mit erhobenem Zeigefinger einen Vorwurf." Jedenfalls, so zitiert ihn die Zeitung, möchte er nicht „den Moralapostel geben“.

Das erwartet auch keiner von ihm. Nicht mal, dass er irgendeinen Apostel darstellt, also an Glaubensverkündigungen mitwirkt. Mir würde es schon reichen, wenn er den Erzieher gäbe – und das möglichst über acht bis neun Jahre.

Was mich heute Morgen beschäftigte: Würde sein Pfaffenhofener Kollege seine Absage durchhalten, welche doch renommiersüchtige Eltern davon abhielte, sich gesellschaftlich als Erzeuger der neuen Bildungselite zu präsentieren? Bei der ersten Tasse Kaffee befragte ich dazu meine – in dem Fall mit speziellem Fachwissen ausgestattete – Gattin: „Hält der das durch?“ Meine Frau war sich sicher: „Ja, wenn der sich mal richtig ärgert, bleibt es dabei!“

Fünf Minuten später holte sie die Morgenzeitung herein: Die Abifeier finde nun doch statt – allerdings mit verschärften Infektionsschutzmaßnahmen und ohne große Reden. (Pfaffenhofener Kurier, 15.7.21, S. 17). Na klar, der Chef wird wenig Lust haben, seinen Abiturienten nun zu versichern, dass sie doch reif wären… Das Wichtigste aber: Er betont, seine Entscheidung habe nichts mit dem „Gegenwind zu tun, den er bekommen habe“.

Aber nein, wer könnte denn sowas denken… Genau das ist es, was mir meinen Beruf so vergällt hat: Es nützt nichts, wenn du als Lehrkraft konsequent bist. Irgendwann klappt das System wieder von oben herab um. Jedenfalls ist ein Arsch in der Hose keine Voraussetzung für die Besoldung nach A 16.

Und weil ich es mir nun eh gerade mit vielen verderbe: Mir hängt das ständige Gejammer über die „armen Jugendlichen“ meterlang zum Hals heraus. Klar, wir alle leiden an der Pandemie. Dass Oberstufen-Schülerinnen und Schüler an der Spitze der Passions-Charts stehen, ist jedoch eine gut gepflegte Mär. Ich habe in vielen Jahren Kollegstufen-Unterricht erlebt, was angehende Abiturienten vom Präsenz-Unterricht hielten – zumindest in Fächern, die fürs Abi-Punktekonto eher unbedeutend waren: Blaumachen war da ein Volkssport. Wenn man nun treuherzig bekundet, wie sehr man auf die analoge Nähe zur Lehrkraft angewiesen sei, sage ich mit Joschka Fischer: Ich kann Krokodile nicht weinen sehen.

Hätten die Pfaffenhofener Abiturienten das seelische Trauma, das Zeugnis nicht aus den Händen ihres Chefs zu erhalten, irgendwann überwunden? Ich bin da optimistisch: Als wir 1970 unser Abitur ablegten, verweigerten wir eine Abifeier, weil wir keine Lust hatten, ein autoritäres Schulsystem durch unsere Mitwirkung zu bestätigen. Wir holten uns den Wisch“ im Sekretariat ab. Zur Feier des Bildungsabschlusses gab es bei mir eine kleine Party im hauseigenen Garten, bei der viel getanzt und wenig gesoffen wurde. Unmittelbar danach trat ich eine Stelle als Werkstudent bei Audi an. Meine Eltern hätten mir eine 700 Mark-Reise eh nicht bezahlen können.

Na gut, nun müssen sich die Holledauer Jungakademiker halt in heimischen Gefilden zudröhnen. Dann darf die Polizei wieder – oft genug mit wenig Erfolg – Parks und Innenstädte von besoffenem Gesocks freiräumen.

Einen vollen Erfolg verzeichnete die Ordnungsmacht dagegen in Heidelberg: Einem Rentner, der im nächsten Monat 105 Jahre alt wird, ist es nun untersagt, in seinem Altstadtgässchen wie bisher an einem kleinen Tischchen vorm Haus des Abends sein Gläschen Wein zu genießen – manchmal auch mit zwei oder drei Freunden. Als Begründung müssen Rettungswege und „Biergarten-Chaos“ herhalten. Autos dürfen dort allerdings parken – und die Anwohner regelmäßig die Hinterlassenschaften feiernder Jugendlicher wegputzen.

105 Jahre… geboren also in den Notzeiten des 1. Weltkriegs, Wirtschaftskrise, Nazidiktatur, 2. Weltkrieg. Danach, so der alte Mann, habe schon seine Mutter an dieser Stelle gesessen und Kartoffeln geschält.

https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-heidelberg-104-jaehriger-darf-nicht-mehr-vorm-haus-in-der-altstadt-sitzen-_arid,704944.html

Schade, dass Heidelberg so weit weg ist. Ich hätte mit dem alten Herrn gerne mal – in der Tradition der 68er-Jahre – beim einem Glas Trollinger ein kleines Sit-in veranstaltet. Und die eventuell anrückende Ordnungsmacht mit einem Viertelpfündchen Satire traktiert sowie das Bußgeld aus der Portokasse spendiert.    

Mich hätte die Meinung des ältesten Bewohner Heidelbergs interessiert, was bei uns eigentlich heute aus den Fugen geraten ist.

P.S. Zur Feierkultur des modernen Abiturienten:

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2019/07/die-pharisaer-erleben-den-aufstand.html

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2016/03/abistreiche-dreistigkeit-kontra.html

Dienstag, 13. April 2021

Die Corona-Helikopter

 

Über die Tendenz heutiger Eltern, wegen jedem Käse Vernichtungsfeldzüge gegen die Schule oder (noch besser) einzelne Lehrer zu führen, habe ich längst berichtet:

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2015/07/helikopter-eltern-wirbel-garantiert.html

Zu Corona-Zeiten ergeben sich für diesen Personenkreis natürlich ungeahnte neue Möglichkeiten. Lange Zeit war es vor allem die Maskenpflicht an den Bildungseinrichtungen, gegen die man das Totenglöcklein läutete. Nun scheint aber trotz gelegentlicher, mutiger Behauptungen doch kein Kind blau angelaufen oder gar verstorben zu sein. Schade drum…

Glücklicherweise gibt es gerade in Bayern nun einen neuen Aufreger: Die kultusministeriell angeordneten Corona-Schnelltests ein- bis zweimal die Woche, welche natürlich irgendwo zwischen Körperverletzung und Kindsmissbrauch rangieren. Über die genaueren Abläufe beim amtlich vorgeschriebenen Nasepopeln habe ich ebenfalls berichtet:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/04/zum-testen-was-neues.html

Als Beispiel hier ein Artikel, den der Journalist Boris Reitschuster vor zwei Tagen auf seinem stark frequentierten Blog veröffentlichte:  

https://reitschuster.de/post/zwangstests-soeder-uebergeht-eltern/?fbclid=IwAR11q_Wa-Vc5uK0xocdYhbZSdiffzDoR9CMDP-92QMw4jLuydgAdHf_3DZk

Der Text zitiert eine Petition an den Bayerischen Landtag, in der es unter anderem heißt:

„Die Grundrechte, die auch für Kinder gelten, werden ignoriert. Immer weniger Rechte und immer mehr Pflichten werden verkündet. … Unseren Kindern wird in diesen schweren Zeiten mittlerweile zu viel zugemutet … Wird es noch mehr Voraussetzungen in Zukunft geben, damit unsere Kinder ihrer Schulpflicht nachgehen können? (…) Zwingt die Kinder nicht, Dinge tun zu müssen, die sie nicht wollen! Lasst die Kinder wieder Kinder sein!“

Weiterhin wird ein Anschreiben einer bayerischen Grund- und Mittelschule an die Eltern abgedruckt, bei dem allerdings dank der Schwärzungen nicht klar wird, von wem es genau verfasst wurde – lediglich ist zu lesen: „Im Namen der Kolleg*innen“. Die Bedenken, welche darin geäußert werden, klingen teilweise kabarettreif: Was, wenn „Schmerzen in der Nase, Nasenbluten, Lösungstropfen auf der Kleidung, am Körper“ aufträten? Ich darf aus Erfahrung versichern: Im normalen Schulbetrieb hat Nasenbluten andere Ursachen, und auf Haut plus Kleidung landen ganz andere Flüssigkeiten!

Und klar, als Lehrer sei man medizinisch nicht geschult. Ich wurde in der letzten Zeit öfters gefragt, wer denn diese schulischen Tests durchführen solle. Meine Antwort aus über 35-jähriger Erfahrung in dem Job: Natürlich die Lehrer, wer sonst? Wir durften doch schon bisher auf dem Schulfest Quizspiele organisieren, Waffeln backen und Hüpfburgen aufbauen, ohne es studiert zu haben…

Allerdings stammt der Artikel gar nicht von Boris Reitschuster selber, sondern von einem Kollegen, der bei diesem Thema nicht namentlich genannt werden wollte – was einiges über die Atmosphäre in unserer Gesellschaft und in unseren Medien aussage. Ich finde, es sagt mehr über die heutigen Zustände aus, dass im Internet haufenweise anonyme Hassbotschaften kursieren.

Übrigens wird das Blog „reitschuster.de“ von vielen Fachleuten in den Bereich des Rechtspopulismus eingeordnet.

https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Reitschuster

Klar, dass sich auch die AfD begeistert des Themas annimmt. So bietet deren Landtagsfraktion Sachsen-Anhalt Eltern, die gegen den „Corona-Testzwang“ vorgehen wollen, Hilfe an. Die Landesregierung wolle „durch Massentestungen von völlig symptom- und beschwerdefreien Schülern die Inzidenzwerte künstlich hochhalten oder gar erhöhen, um ihre destruktive Corona-Politik zu rechtfertigen.“

Ein Muster-Beschwerdeschreiben ist beigefügt, ebenfalls eine Partei-Mailadresse, auf der man „Fehlverhalten von Schulpersonal“ melden könne:

„Deutschland. Aber normal.“

https://cdn.afd.tools/sites/177/2021/04/09150012/Nein-zum-Corona-Testzwang-an-Schulen-Handlungsanleitung-f%C3%BCr-Eltern-2.pdf

In der Facebook-Gruppe „Wissen ist Macht“ wird ein anderer Artikel Reitschusters verlinkt, in dem er über einen gerichtlichen Eilantrag zweier bayerischer Schüler gegen die Corona-Testpflicht berichtet. Typischerweise ist hier die Gangart der Kommentare härter. Eine Kostprobe:

„Das sollte in ganz Deutschland verboten werden. Es ist nicht mehr normal, dass Kindern wegen eines Virus, bei dem sich Gesunde testen lassen müssen, ob sie gesund sind, den Infizierte teilweise nicht einmal bemerken, misshandelt werden. Nicht genug, dass ihnen die Kindheit, in Form von Freunden, Freizeitaktivitäten und Spaß genommen wird, sie mit einem Rotzlappen vor'm Gesicht, bei weit geöffnetem Fenster im Winter unterrichtet werden oder zu Hause eingesperrt sind, jetzt werden sie auch noch dieser schmerzhaften Prozedur unterzogen. Dieses Land ist krank, dass es seine Kinder so vor die Hunde gehen lässt und dann gibt es tatsächlich regierungsunterwürfige Eltern, die das auch noch begrüßen!“

https://www.facebook.com/wimacht/posts/2530295867279452

Ich bin gespannt, ob ebenso ausführlich darüber berichtet wird, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag gegen die Testpflicht gestern zurückgewiesen hat:

https://www.infranken.de/lk/forchheim/testpflicht-an-bayerischen-schulen-bestaetigt-forchheimer-anwalt-geklagt-art-5190177

Klar ist die Situation der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern seit über einem Jahr problematisch. Und es trifft natürlich vor allem die hart, deren Lebenskonzeption schon vor Corona eher schwierig war. Aber was soll der Staat denn machen? Weiterhin auf Distanzunterricht setzen – was natürlich gerade von Alleinerziehenden heftig beklagt wird? Die Schülerinnen und Schüler ohne Testmaßnahmen in die Klassenzimmer lassen? Eine optimale Lösung ist nicht in Sicht. Weniger wegen der unfähigen Politiker als durch ein sehr fähiges Virus.

Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Lehrer meine ich, den Kindern ist es lieber, in der Schule wieder im sozialen Kontakt lernen zu dürfen. Das bisschen Nasepopeln finden sie wahrscheinlich eher interessant – zumindest am Anfang. Und natürlich muss das Ganze unterrichtlich und pädagogisch begleitet werden. Ich würde meinen Schützlingen jedenfalls erklären, dass ein positives Testergebnis keine Katastrophe ist: Erstens ist ja die Möglichkeit einer falsch positiven Anzeige ziemlich groß, und vor allem würde sie eine Corona-Infektion mit ziemlicher Sicherheit kaum gesundheitlich beeinträchtigen. Aber es ist wichtig, das zu überprüfen, damit sie nicht ihre Eltern oder Großeltern anstecken. Kinder verstehen solche Erklärungen durchaus – vielleicht mehr als manche Erwachsene.

Nach meinem Eindruck sind es oft diejenigen, welche durch ihre überzogen panischen Reaktionen die Kleinen ängstigen: Wenn schon die Großen derartig durchdrehen, muss es doch wirklich schlimm sein…

Gerade eben erreichte mich ein Facebook-Kommentar: Kinder kann man auch in den Krieg schicken, wenn man ihnen weismacht, dass das für einen guten Zweck ist. Die Geschichte ist voll davon... Manche nennen sowas moralischen Kindesmissbrauch.“

Ich glaube, das gerade Gegenteil ist der Fall: Kindern muss ein Urvertrauen gegenüber ihrer Umwelt vermittelt werden. Es wird schon alles gutgehen – und auf die Erwachsenen, auch die Lehrer, ist Verlass. „Moralischer Kindesmissbrauch“ ist es eher, wenn Kindern nichts mehr gefällt, weil man ihnen beigebracht hat, sich nichts gefallen zu lassen.

Daher rate ich den corona-beflügelten Hubschrauber-Pilot*innen, das Rotieren einzustellen. Ihre Kinder gehen – zumindest nach so langer Pause – gerne wieder zur Schule. Verderben Sie ihnen den Spaß nicht.

Schließlich hat uns bereits Altmeister Goethe den Weg gewiesen:

„Man könnt' erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären.“

Mittwoch, 27. Januar 2021

Von Verdun bis Auschwitz

 

Zum heutigen Holocaust-Gedenktag, der an die Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau am 27.1.1945 erinnert, sprach im Deutschen Bundestag Dr. h.c. Charlotte Knobloch. Sie ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland. 

Ich hörte diese Ansprache eher zufällig in der Fernseh-Direktübertragung – und war tief beeindruckt und bewegt. Ich müsste sehr lange zurückdenken, um mich an eine andere, solch fulminante Rede zu erinnern.

Dabei ist das Konzept einfach: Charlotte Knobloch, 1932 geboren, erzählt einfach aus ihrem Leben – schnörkellos, nüchtern, ungeschminkt. Von den unfassbaren Leiden, welche sie schon als kleines Kind prägten. Und sie appelliert an die Demokraten: „Passen Sie auf auf unser Land!“

Ich fasse die Rede zusammen (mit kursiven Originalzitaten):

Ich stehe vor Ihnen – als stolze Deutsche.

Wie einst meine Großmutter Albertine Neuland, seligen Angedenkens. Mit meinem Großvater treu ihrer deutschen Heimat verbunden. Hoch angesehen in der Bayreuther Kaufmannsgesellschaft. Passionierte Wagnerianerin. Ermordet in Theresienstadt im Januar 1944.

Von meiner Großmutter habe ich die Liebe zu den Menschen geerbt – trotz der Menschen.

Ich stehe als stolze Deutsche vor Ihnen.

Charlotte Knobloch berichtet von ihrem Vater, einem dekorierten Veteran des Ersten Weltkriegs, der für Deutschland gekämpft hat. Seine Loyalität schützte ihn nicht vor den Schikanen der Nationalsozialisten.

Sie berichtet nun von ihrem eigenen Leben: Drei Monate ist sie alt, als Hitler an die Macht kommt. Mit vier Jahren erlebt sie den Weggang ihrer Mutter. Diese war zum jüdischen Glauben konvertiert und hielt dem Druck, mit einem Juden verheiratet zu sein, nicht mehr Stand. Die Großmutter erzieht sie nun. Das kleine Mädchen erlebt hautnah die wachsenden Einschränkungen und Verunglimpfungen:

Eines Nachmittags will ich zum Spielen raus. Im Hof gegenüber treffe ich mich oft mit Mädchen und Buben aus der Nachbarschaft. Heute ist das Gatter verschlossen. Ich rufe. Sie drehen sich weg. Von hinten raunt mich die Hausmeisterfrau an: »Judenkinder dürfen hier nicht spielen!«

Ab 1938 geht die Erzählerin auf die jüdische Schule. Sie hatte sich darauf gefreut. Nun sitzt die Furcht mit im Klassenzimmer. Der Schulweg ist ein Spießrutenlauf.

Die „Arisierung“ ist nun in vollem Gange. Geschäftliche und berufliche Existenzen werden vernichtet. Ihr Vater verliert die Anwaltszulassung.

„Unser Leben findet nur noch zu Hause statt. Aber Privatsphäre gibt es nicht mehr: Meist abends – wenn es dunkel und Juden verboten ist, das Haus zu verlassen – klingelt es Sturm. Männer in langen Mänteln streifen durch die Wohnung, als sei es die ihre. Porzellan, Teppiche, Besteck, Bilder, Antiquitäten, Leuchter – sie bedienen sich nach Belieben und quittieren, akkurat. Deutschland.“  

Schikanen, Bedrohungen und nicht nur psychische Gewalt sind nun an der Tagesordnung. Das kleine Mädchen erlebt, wie man ihren Vater von seiner Hand wegreißt und in ein Auto zerrt. Nach Stunden kommt er wieder zurück. Glück gehabt – noch.

Charlotte Knobloch macht nun eine aktuelle Zwischenbemerkung, die ich für sehr wichtig halte:

Lassen Sie es mich hier klar sagen: Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Schoa. Das ist inakzeptabel!

Ab November 1941 erlebt die damals Neunjährige die Deportationen in den Osten. Freunde und Bekannte verschwinden für immer. Schließlich trifft es auch ihre Familie: Entweder die Großmutter oder die Enkelin müssen auf einen Transport. Die Oma zögert keine Sekunde – sie fahre nun „zur Kur“. Auch das kleine Mädchen weiß, was das bedeutet… 

Der Vater versteckt sie auf einem fränkischen Dorf, wo sie als „Lotte Hummel“ beim ehemaligen Dienstmädchen von Verwandten die Nazizeit überlebt. Auch ihren Vater sieht sie wieder – von Misshandlungen gesundheitlich schwer geschädigt.

Ich will nicht zurück nach München! Zurück zu den Leuten, die uns beleidigt, bespuckt, uns in jeder Form gezeigt haben, wie sehr sie uns plötzlich hassten!

Aber ich habe keine Wahl. Und so begegne ich ihnen allen. Ich will weg aus dieser Stadt, aus diesem Land.

Mit 16 lernt sie ihren späteren Mann Samuel Knobloch kennen. Seine Mutter und fünf seiner Geschwister wurden im Ghetto ermordet – seinen Vater erschoss man vor seinen Augen.

Sie wollen in die USA auswandern – und bleiben schließlich doch in Deutschland. Sie erleben, dass man sich dort in den 1960-er und 70-er Jahren endlich mit der Aufarbeitung der Naziverbrechen befasst. Charlotte Knobloch engagiert sich – in der eigenen Kultusgemeinde und der Politik. Jüdisches Leben habe hierzulande wieder eine Perspektive. Aber:

„Ich muss Ihnen nicht die Chronologie antisemitischer Vorfälle in unserem Land darlegen. Sie erfolgen offen, ungeniert – beinahe täglich.

Verschwörungsmythen erfahren immer mehr Zuspruch. Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen. Ist wieder salonfähig – von der Schule bis zur Corona-Demo. Und natürlich: im Internet – dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art.“

Der Antisemitismus sei nicht nur fester Bestandteil des Rechtsextremismus, sondern auch in der extremen Linken verwurzelt – und im radikalen Islam. Knobloch erinnert an den Artikel 18 des Grundgesetzes: Wer Grundrechte dazu benützt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu bekämpfen, verwirkt sie.

Auf keinen Fall darf auf dem Rücken der Polizei ausgetragen werden, was Legislative und Judikative liegen lassen.

Ihr wichtigster Appell gilt den jungen Menschen:

„Es gibt keinen besseren Kompass als Euer Herz. Lasst euch von niemandem einreden, wen Ihr zu lieben und wen Ihr zu hassen habt!“ 

Aber auch für die vor ihr sitzende AfD-Fraktion des Bundestags hat sie eine Botschaft:

„Ich spreche Sie nicht pauschal an! Vielleicht ist die eine oder der andere noch bereit zu erkennen, an welche Tradition da angeknüpft wird. Zu den übrigen in Ihrer »Bewegung«: Sie werden weiter für Ihr Deutschland kämpfen. Und wir werden weiter für unser Deutschland kämpfen. Ich sage Ihnen: Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren!“

Wirklich?

Auf der Facebook-Seite von t-online wurde heute an den Holocaust-Gedenktag erinnert. Darunter fanden sich dann Kommentare wie diese:

Der Sinn des Gedenktages ist, uns weiter das Geld aus der Tasche zu ziehen“

„Ja und den Opfern des 30 jährigen Krieges ich fühl mich so schuldig.“

„Auf ewig schuldig, oder wie? Ich kann es nicht mehr hören!“ 

Sorry, aber weitere Zitate mag ich nicht bringen – ich kotze sonst auf die Tastatur. Nichts dazugelernt?

Kurt Tucholsky schrieb zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 durch nationalistische Freikorps-Soldaten:  Wir wollen bis zum letzten Atemzuge dafür kämpfen, dass diese Brut nicht wieder hochkommt.“

Seine Generation hat es nicht geschafft. Vergeblich war sein flammender Appell, den er 1924 nach einem Besuch der Gedenkstätten von Verdun verfasste, wo im Ersten Weltkrieg über eine halbe Million französische und deutsche Soldaten fielen:

Ist es vorbei –?

Sühne, Buße, Absolution? Gibt es eine Zeitung, die heute noch, immer wieder, ausruft: »Wir haben geirrt! Wir haben uns belügen lassen!«? (…) Gibt es auch nur eine, die nun den Lesern jahrelang das wahre Gesicht des Krieges eingetrommelt hätte, so, wie sie ihnen jahrelang diese widerwärtige Mordbegeisterung eingebläut hat? (…) Habt ihr einmal, ein einziges Mal nur, wenigstens nachher die volle, nackte, verlaustblutige Wahrheit gezeigt? Nachrichten wollen die Zeitungen, Nachrichten wollen sie alle. Die Wahrheit will keine. 

Und aus dem Grau des Himmels taucht mir eine riesige Gestalt auf, ein schlanker und ranker Offizier, mit ungeheuer langen Beinen, Wickelgamaschen, einer schnittigen Figur, den Scherben im Auge. Er feixt. Und kräht mit einer Stimme, die leicht überschnappt, mit einer Stimme, die auf den Kasernenhöfen halb Deutschland angepfiffen hat, und vor der sich eine Welt schüttelt in Entsetzen:

»Nochmal! Nochmal! Nochmal –!«

https://www.textlog.de/tucholsky-vor-verdun.html 

Heute schwenkt man – sogar vor dem Bundestag – wieder Reichskriegsflaggen. Und wer öffentlich eine Kippa trägt, ist sehr mutig. Passen wir wirklich gut auf unser Land auf? 

Ich meine, wir haben bislang vor allem Glück gehabt.

P.S. Hier das Video der Rede:

https://www.youtube.com/watch?v=EF2mdHj5gKk

Die Textfassung dazu:

https://www.juedische-allgemeine.de/politik/ich-stehe-vor-ihnen-als-stolze-deutsche/