Es gibt in meiner
zurückliegenden Dienstzeit etliche Erlebnisse, bei denen mir in der Erinnerung
immer noch die kalte Wut hochsteigt. Eines davon hat mit der in den 80-er
Jahren entstandenen Tradition von Abiturienten zu tun, mittels sogenannter „Abistreiche“ nochmal alle Vorurteile
über sie zu bestätigen. Ich schrieb vor über 20 Jahren einen Artikel darüber,
welcher (etwas gekürzt) wie folgt lautet:
Im
Januar 19.. musste ein Schüler der 13. Jahrgangsstufe unser Gymnasium
verlassen, da er die Mindestqualifikation für die Abiturzulassung verfehlte. Er
hatte dies seit Längerem kommen sehen, akzeptierte es wohl auch und wechselte
auf eine Privatschule.
Seine
Mitschüler allerdings problematisierten flugs eine (gar nicht so schlechte,
aber halt nicht mehr reichende) Referatnote, überfielen – mit Fotoapparaten
sowie selbstgerechter Empörung ausgestattet – den Unterricht in diesem Kurs und
machten die Szene zum Tribunal. Der herbeigerufene Direktor moderierte (anstatt
die Schüler rauszuschmeißen) die Veranstaltung. Zurück blieben eine von
Weinkrämpfen geschüttelte Lehrerin sowie ein kopfschüttelndes Kollegium.
Nach
dem Südstaaten-Motto „zuerst zuschlagen, dann schreiben“ lieferten die
Abiturienten eine schriftliche Erklärung nach. Ihre Aktion sei „eine
Solidaritätskundgebung“ für ihren Kollegen gewesen. „Aber nicht nur die
Schüler, sondern auch die Lehrer sollten zur Förderung der Gemeinschaft und der
Menschlichkeit innerhalb des Schulbetriebes beitragen. Wir haben uns für diesen
Weg der Konfrontation entschieden (…) Bedauerlich ist jedoch, dass unsere
Absichten von Anfang an falsch verstanden wurden und dies sogar zu persönlichen
Angriffen der Lehrerschaft gegenüber einzelnen Schülern führte…“
Ich
konnte schon damals meine Klappe nicht halten und antwortete in einem offenen
Brief der werten Abituria unter anderem: „Wer propagiert denn immer wieder,
nicht nur in Abiturzeitungen und -reden, die Lehren vom geringsten Aufwand und
der größtmöglichen Abwesenheit, stellt Automarke, Stammkneipe und
Lieblingsgetränkeart als Highlights gymnasialen Lebens hin? Es würde sich
lohnen, hier einmal vorurteilslos über die Rollenverteilung von Tätern und
Opfern nachzudenken…“
Donnerndes
Schweigen war die schülerseitige Antwort. Um eine Diskussion war es ihnen ja
auch nie gegangen.
Anfang
Juli, einen Tag vor der Abiturfeier, erschien eine Delegation prospektiver
Inhaber des Reifezeugnisses beim Direktor mit folgender Forderung: Er solle per
Rundspruch die Lehrer in die Eingangshalle zitieren, woselbst sie zur
„Auslösung ihrer Kraftfahrzeuge“ etwas zu singen hätten – widrigenfalls ein
zirka eine Tonne schwerer Steinblock in der Parkplatzeinfahrt verbleibe. Als
der Chef antwortete, er könne seine Lehrer nicht anweisen, auf eine Nötigung
einzugehen, wurde man deutlicher: Die Presse sei schon bestellt, da könne er
dann morgen nachlesen, was er von seiner Weigerung habe. Zeitgleich
durchkämmten „Stoßtrupps“ die Klassenzimmer mit der frohen Botschaft, der
weitere Unterricht falle aus.
So
war es dann auch – und ein Teil des Kollegiums mutierte pflichtschuldigst zum
Gesangsverein. Glücklicherweise kam im Gedränge vor dem Hauptportal keiner
unter ein Auto.
Mich
hatten diese „frohen Botschaften“ irgendwie nicht erreicht, und so beendete ich
regulär meine Stunde und wollte, da ich am frühen Nachmittag noch eine Sitzung
hatte, schnell zum Essen fahren. Was es genau mit dem Findling in der Zufahrt genau
auf sich hatte, mochte ich zunächst nicht klären. Also bestellte ich ein Taxi
und ließ mir vorsichtshalber eine Rechnung geben.
Am
nächsten Tag berichteten die beiden Heimatzeitungen über den Vorfall. Was im
konservativeren Blatt relativ sachlich klang, las sich im Lokal-Ableger der SZ
so: „Beim Spaß hört für …, Direktor des …-Gymnasiums, der Humor auf. Das bewies
er eindrucksvoll beim Abiturscherz am gestrigen Dienstag. (…) Allerdings hatte
er nicht mit dem Humor einiger seiner Lehrer gerechnet. An die 20 Pädagogen
fanden nämlich nichts dabei… (der Direktor) hingegen gab sich nicht nur
unmusikalisch, sondern auch autoritär…“
Ich
reichte bei beiden Lokalredaktionen einen Leserbrief ein. Das konservative
Blatt druckte, das linke nicht: „Sie wollten uns gestern dazu zwingen, Überstunden
zu machen und uns kulturell zu betätigen. Beides tue ich gelegentlich,
beispielsweise neulich (…), als unsere Schultheatergruppe ein Stück aufführte.
(…) Was mich gestern störte, war vorwiegend die Methode, denn sie ist
jedenfalls unvollständig. Es fing ja gut an: Das Gebäude wurde umstellt,
Stoßtrupps schwärmten zwecks Rekrutierung von Gefolgschaft aus, die Massenszene
wurde pressewirksam organisiert und auf Geheiß etwas gesungen. Da könnte man
beim nächsten Abiturstreich sicher noch etwas ergänzen, was mir gerade noch
gefehlt hat. Einstweilen bitte ich um Ihr Verständnis, dass mir der nötige
Casinohumor für Kameradschaftstreffen mit Ihnen abgeht.“
Die
werte Abituria antwortete auf gleichem Weg: „Und das traurigste, was von ‚Direktors
Anhängerschaft‘ zu hören war, dient hier als einfaches aber bezeichnendes
Beispiel: Gerhard Riedl – Lehrer am … - erteilte dem ‚Casinohumor‘ der
Absolventen eine Absage und beschrieb den wirklich sehr harmlos verlaufenden
Abiturstreich in einem deplatzierten Militärjargon.“ (Was mir heute klar ist:
Das war ein Ghostwriter – die Abiturienten wären zu so einem Deutsch nicht
fähig gewesen!)
Die
Pharisäer beschrieben den Aufstand.
Am
gleichen Tag gelang mir die wirkungsvollste Glosse, die ich je hinbekommen habe
– und noch dazu mit so wenig Text: Sie hatte die Form einer Rechnung über meine
Taxikosten von 16,10 DM, welche ich der Wortführerin der Aktion schickte. Sie
löste ein Beben gleichen Zahlenwerts auf der Skala meiner Richter aus – endlich
hatte ich ein interessantes Thema gewählt: Geld.
Das
solchermaßen bedrängte Fräulein reagierte nicht schön auf mein fremdgeleitetes
Essengehn. Verantwortungsfroh verteilte sie die Schuldnerschaft auf die Masse
und schickte mir einen anteiligen Verrechnungsscheck über 0,24 DM. Fernerhin empfahl
sie mir fürs nächste Mal Butterbrote gegen den Hunger und kreischte nach der
Presse.
Nun
druckte endlich auch das linksliberale Blatt – und zwar diese Rechnung ohne
jedes Zeilenhonorar.
Meine
Antwort, das Geld der Deutschen Welthungerhilfe zu spenden, veröffentlichte
natürlich niemand.
Bei
all dem Hickhack hatte wohl mein Geruchsvermögen gelitten, sonst hätte ich eher
Wind bekommen von der zunehmenden Achselnässe, die sich im Lehrerkollegium
verbreitete – hatte ich doch die Götter Jugend und öffentliche Meinung genug
gereizt. Man befürchtete zu Recht, ich würde wegen des Restbetrags einen
Mahnbescheid erwirken! Flugs sammelte man Geld für meine Taxifahrten, auf dass
ich endlich Ruhe gebe.
Als
ich dieses ungerührt entgegennahm, kam einzelnen Kollegen die Befürchtung, sie
seien zu weit gegangen (und das bei diesen kleinen Beträgen!). Man begann, sich
bei mir zu entschuldigen… Die Posse endete damit, dass viele Lehrer dorthin
fuhren, wo sich die Abiturienten längst befanden: in den Urlaub.
Soweit der damalige
Bericht. Wahrscheinlich bin ich zu empfindlich: Mein Gefühl für eine gewisse
Art von Dreistigkeit, Arroganz und erpresserischer Mentalität ist wohl
hypertrophiert. Was mich damals wütend machte, war der schülerseitige Verzicht
auf jede Art von vernünftigem Dialog. Da wurden Szenen ohne jede Not zum Tribunal
stilisiert, und mit dem Gegner redet man nicht, sondern stellt ihn öffentlich
bloß.
Dennoch gebe ich
jungen Menschen keine Schuld – sie sind stets das Produkt von Erziehung. Wenn
ich mich dagegen an den opportunistischen Eiertanz meiner Kollegen erinnere,
wird mir heute noch übel. Verfügt man weder über Konsequenz noch Courage, kann
man dies auch nicht an die nächste Generation weitergeben. Dass die „Abistreiche“
der folgenden Jahre noch schlimmer ausfallen würden, lag für mich auf der Hand.
Inzwischen gibt es,
beispielsweise in Köln (!) zu diesen Anlässen viele Polizeieinsätze wegen Ruhestörung,
Sachbeschädigung, gefährlicher Körperverletzung, Landfriedensbruch und Verstößen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz. Jüngst
wurden zwei Schüler durch Wurfgeschosse schwer verletzt. Schlagstöcke und
Pfefferspray waren offenbar erforderlich, um die randalierenden „geistigen
Elite-Embryonen“ zur Raison zu bringen.
http://www.ksta.de/koeln/abipartys-randalierende-abiturienten-sorgen-fuer-15-polizei-einsaetze-in-koeln-23720984
Nun könnte man ja die Rädelsführer noch vor dem Abitur von der Schule werfen. Wetten, das geschieht nicht?
Nun könnte man ja die Rädelsführer noch vor dem Abitur von der Schule werfen. Wetten, das geschieht nicht?
Vielleicht war es ja
doch nicht übertrieben, im damaligen Text Kurt Tucholsky zitiert zu haben, der
1927 über die deutschen Richter schrieb:
P.S. Jahre später erhielt ich eine Einladung dieses Jahrgangs zu einem "Abitreffen". Ich lehnte ab und legte den obigen Artikel bei. Die Antwort? Raten Sie mal...
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