Dienstag, 15. März 2016

Abistreiche: Dreistigkeit kontra Achselnässe



Es gibt in meiner zurückliegenden Dienstzeit etliche Erlebnisse, bei denen mir in der Erinnerung immer noch die kalte Wut hochsteigt. Eines davon hat mit der in den 80-er Jahren entstandenen Tradition von Abiturienten zu tun, mittels sogenannter „Abistreiche“ nochmal alle Vorurteile über sie zu bestätigen. Ich schrieb vor über 20 Jahren einen Artikel darüber, welcher (etwas gekürzt) wie folgt lautet:

Im Januar 19.. musste ein Schüler der 13. Jahrgangsstufe unser Gymnasium verlassen, da er die Mindestqualifikation für die Abiturzulassung verfehlte. Er hatte dies seit Längerem kommen sehen, akzeptierte es wohl auch und wechselte auf eine Privatschule.

Seine Mitschüler allerdings problematisierten flugs eine (gar nicht so schlechte, aber halt nicht mehr reichende) Referatnote, überfielen – mit Fotoapparaten sowie selbstgerechter Empörung ausgestattet – den Unterricht in diesem Kurs und machten die Szene zum Tribunal. Der herbeigerufene Direktor moderierte (anstatt die Schüler rauszuschmeißen) die Veranstaltung. Zurück blieben eine von Weinkrämpfen geschüttelte Lehrerin sowie ein kopfschüttelndes Kollegium.

Nach dem Südstaaten-Motto „zuerst zuschlagen, dann schreiben“ lieferten die Abiturienten eine schriftliche Erklärung nach. Ihre Aktion sei „eine Solidaritätskundgebung“ für ihren Kollegen gewesen. „Aber nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer sollten zur Förderung der Gemeinschaft und der Menschlichkeit innerhalb des Schulbetriebes beitragen. Wir haben uns für diesen Weg der Konfrontation entschieden (…) Bedauerlich ist jedoch, dass unsere Absichten von Anfang an falsch verstanden wurden und dies sogar zu persönlichen Angriffen der Lehrerschaft gegenüber einzelnen Schülern führte…“

Ich konnte schon damals meine Klappe nicht halten und antwortete in einem offenen Brief der werten Abituria unter anderem: „Wer propagiert denn immer wieder, nicht nur in Abiturzeitungen und -reden, die Lehren vom geringsten Aufwand und der größtmöglichen Abwesenheit, stellt Automarke, Stammkneipe und Lieblingsgetränkeart als Highlights gymnasialen Lebens hin? Es würde sich lohnen, hier einmal vorurteilslos über die Rollenverteilung von Tätern und Opfern nachzudenken…“

Donnerndes Schweigen war die schülerseitige Antwort. Um eine Diskussion war es ihnen ja auch nie gegangen.

Anfang Juli, einen Tag vor der Abiturfeier, erschien eine Delegation prospektiver Inhaber des Reifezeugnisses beim Direktor mit folgender Forderung: Er solle per Rundspruch die Lehrer in die Eingangshalle zitieren, woselbst sie zur „Auslösung ihrer Kraftfahrzeuge“ etwas zu singen hätten – widrigenfalls ein zirka eine Tonne schwerer Steinblock in der Parkplatzeinfahrt verbleibe. Als der Chef antwortete, er könne seine Lehrer nicht anweisen, auf eine Nötigung einzugehen, wurde man deutlicher: Die Presse sei schon bestellt, da könne er dann morgen nachlesen, was er von seiner Weigerung habe. Zeitgleich durchkämmten „Stoßtrupps“ die Klassenzimmer mit der frohen Botschaft, der weitere Unterricht falle aus.

So war es dann auch – und ein Teil des Kollegiums mutierte pflichtschuldigst zum Gesangsverein. Glücklicherweise kam im Gedränge vor dem Hauptportal keiner unter ein Auto.

Mich hatten diese „frohen Botschaften“ irgendwie nicht erreicht, und so beendete ich regulär meine Stunde und wollte, da ich am frühen Nachmittag noch eine Sitzung hatte, schnell zum Essen fahren. Was es genau mit dem Findling in der Zufahrt genau auf sich hatte, mochte ich zunächst nicht klären. Also bestellte ich ein Taxi und ließ mir vorsichtshalber eine Rechnung geben.

Am nächsten Tag berichteten die beiden Heimatzeitungen über den Vorfall. Was im konservativeren Blatt relativ sachlich klang, las sich im Lokal-Ableger der SZ so: „Beim Spaß hört für …, Direktor des …-Gymnasiums, der Humor auf. Das bewies er eindrucksvoll beim Abiturscherz am gestrigen Dienstag. (…) Allerdings hatte er nicht mit dem Humor einiger seiner Lehrer gerechnet. An die 20 Pädagogen fanden nämlich nichts dabei… (der Direktor) hingegen gab sich nicht nur unmusikalisch, sondern auch autoritär…“

Ich reichte bei beiden Lokalredaktionen einen Leserbrief ein. Das konservative Blatt druckte, das linke nicht: „Sie wollten uns gestern dazu zwingen, Überstunden zu machen und uns kulturell zu betätigen. Beides tue ich gelegentlich, beispielsweise neulich (…), als unsere Schultheatergruppe ein Stück aufführte. (…) Was mich gestern störte, war vorwiegend die Methode, denn sie ist jedenfalls unvollständig. Es fing ja gut an: Das Gebäude wurde umstellt, Stoßtrupps schwärmten zwecks Rekrutierung von Gefolgschaft aus, die Massenszene wurde pressewirksam organisiert und auf Geheiß etwas gesungen. Da könnte man beim nächsten Abiturstreich sicher noch etwas ergänzen, was mir gerade noch gefehlt hat. Einstweilen bitte ich um Ihr Verständnis, dass mir der nötige Casinohumor für Kameradschaftstreffen mit Ihnen abgeht.“

Die werte Abituria antwortete auf gleichem Weg: „Und das traurigste, was von ‚Direktors Anhängerschaft‘ zu hören war, dient hier als einfaches aber bezeichnendes Beispiel: Gerhard Riedl – Lehrer am … - erteilte dem ‚Casinohumor‘ der Absolventen eine Absage und beschrieb den wirklich sehr harmlos verlaufenden Abiturstreich in einem deplatzierten Militärjargon.“ (Was mir heute klar ist: Das war ein Ghostwriter – die Abiturienten wären zu so einem Deutsch nicht fähig gewesen!)

Die Pharisäer beschrieben den Aufstand.

Am gleichen Tag gelang mir die wirkungsvollste Glosse, die ich je hinbekommen habe – und noch dazu mit so wenig Text: Sie hatte die Form einer Rechnung über meine Taxikosten von 16,10 DM, welche ich der Wortführerin der Aktion schickte. Sie löste ein Beben gleichen Zahlenwerts auf der Skala meiner Richter aus – endlich hatte ich ein interessantes Thema gewählt: Geld.

Das solchermaßen bedrängte Fräulein reagierte nicht schön auf mein fremdgeleitetes Essengehn. Verantwortungsfroh verteilte sie die Schuldnerschaft auf die Masse und schickte mir einen anteiligen Verrechnungsscheck über 0,24 DM. Fernerhin empfahl sie mir fürs nächste Mal Butterbrote gegen den Hunger und kreischte nach der Presse.

Nun druckte endlich auch das linksliberale Blatt – und zwar diese Rechnung ohne jedes Zeilenhonorar.

Meine Antwort, das Geld der Deutschen Welthungerhilfe zu spenden, veröffentlichte natürlich niemand.

Bei all dem Hickhack hatte wohl mein Geruchsvermögen gelitten, sonst hätte ich eher Wind bekommen von der zunehmenden Achselnässe, die sich im Lehrerkollegium verbreitete – hatte ich doch die Götter Jugend und öffentliche Meinung genug gereizt. Man befürchtete zu Recht, ich würde wegen des Restbetrags einen Mahnbescheid erwirken! Flugs sammelte man Geld für meine Taxifahrten, auf dass ich endlich Ruhe gebe.

Als ich dieses ungerührt entgegennahm, kam einzelnen Kollegen die Befürchtung, sie seien zu weit gegangen (und das bei diesen kleinen Beträgen!). Man begann, sich bei mir zu entschuldigen… Die Posse endete damit, dass viele Lehrer dorthin fuhren, wo sich die Abiturienten längst befanden: in den Urlaub.

Soweit der damalige Bericht. Wahrscheinlich bin ich zu empfindlich: Mein Gefühl für eine gewisse Art von Dreistigkeit, Arroganz und erpresserischer Mentalität ist wohl hypertrophiert. Was mich damals wütend machte, war der schülerseitige Verzicht auf jede Art von vernünftigem Dialog. Da wurden Szenen ohne jede Not zum Tribunal stilisiert, und mit dem Gegner redet man nicht, sondern stellt ihn öffentlich bloß.

Dennoch gebe ich jungen Menschen keine Schuld – sie sind stets das Produkt von Erziehung. Wenn ich mich dagegen an den opportunistischen Eiertanz meiner Kollegen erinnere, wird mir heute noch übel. Verfügt man weder über Konsequenz noch Courage, kann man dies auch nicht an die nächste Generation weitergeben. Dass die „Abistreiche“ der folgenden Jahre noch schlimmer ausfallen würden, lag für mich auf der Hand.    

Inzwischen gibt es, beispielsweise in Köln (!) zu diesen Anlässen viele Polizeieinsätze wegen Ruhestörung, Sachbeschädigung, gefährlicher Körperverletzung, Landfriedensbruch und Verstößen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz. Jüngst wurden zwei Schüler durch Wurfgeschosse schwer verletzt. Schlagstöcke und Pfefferspray waren offenbar erforderlich, um die randalierenden „geistigen Elite-Embryonen“ zur Raison zu bringen.
http://www.ksta.de/koeln/abipartys-randalierende-abiturienten-sorgen-fuer-15-polizei-einsaetze-in-koeln-23720984

Nun könnte man ja die Rädelsführer noch vor dem Abitur von der Schule werfen. Wetten, das geschieht nicht?

Vielleicht war es ja doch nicht übertrieben, im damaligen Text Kurt Tucholsky zitiert zu haben, der 1927 über die deutschen Richter schrieb:

„Während in der alten Generation noch sehr oft ein Schuss Liberalismus, ein Schuss Bordeaux-Gemütlichkeit anzutreffen ist, ein gewisser Humor, der doch wenigstens manchmal mit sich reden lässt, lassen die kalten, glasierten Fischaugen der Freikorpsstudenten aus den Nachkriegstagen erfreuliche Aspekte aufsteigen: Wenn diese Jungen einmal ihre Talare anziehen, werden unsre Kinder etwas erleben. Ihr Mangel an Rechtsgefühl ist vollkommen.“

P.S. Jahre später erhielt ich eine Einladung dieses Jahrgangs zu einem "Abitreffen". Ich lehnte ab und legte den obigen Artikel bei. Die Antwort? Raten Sie mal...

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