Dienstag, 18. April 2023

Lehrer werden? Lieber nicht!

Mein einstiger Wunsch, Lehrer zu werden, entstand in der Oberstufe des Gymnasiums. Mein großes Vorbild war mein Chemie- und Biologielehrer – eine durch und durch liberale Persönlichkeit. Obwohl er natürlich keinen Zweifel daran ließ, wer im Unterricht das letzte Wort hatte, kommunizierte er mit uns auf „Augenhöhe“, nahm uns Jugendliche ernst – was ihm das Missfallen des reaktionären Schulleiters einbrachte.

Auch im sonstigen Kollegium war Liberalität ein Spurenelement. Ein nicht ganz kleiner Teil meiner Lehrkräfte bestand aus desorientierte Spinnern, der große Rest hielt einen halbwegs ordentlichen Unterricht. Talente gab es nur sehr wenige. Aber die meisten einte die Vorstellung, dass wir Schüler zu einer minderen Kaste zählten, deren Ansichten man ignorieren konnte. Man ließ sich mit „Herr Professor“ ansprechen (Frauen gab es nur wenige), Widerspruch wurde als Majestätsbeleidigung verfolgt.

Dies war wohl einer der Hauptgründe, selber den Lehrberuf anzustreben: Ich war damals davon überzeugt, es besser zu können. Mein Traum war, einen ein klar konzipierten Unterricht zu erteilen, den Lernstoff wirklich gut zu erklären, auf Nachfragen einzugehen, im Dialog mit den Schülern (gegendert wurde damals noch nicht) Einsichten und Kenntnisse zu erarbeiten. Und ja – natürlich die anvertrauten Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen, sie nicht als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.

Beigetragen hat sicherlich auch mein „Rampensau-Gen“: Ich suchte die Herausforderung, vor anderen aufzutreten – egal, ob es sich um Unterricht, Zauberei, Moderation oder eine Rede handelte. Stets faszinierte mich der Anspruch, das Publikum „zu kriegen“, einen stabilen und anregenden Kontakt hinzubekommen, Gefühle zu erzeugen.

Als ich meinem großen Vorbild einmal gestand, beruflich in seine Fußstapfen treten zu wollen, warnte er mich eindringlich davor: Es gebe doch „so schöne andere Berufe“

Trotz dieser Skepsis zog ich Studium und Referendariat durch und erzielte Noten, die selbst im gestrengen Bayern zu einer Beamtenstelle reichten – sogar an dem Gymnasium, für das ich mich beworben hatte. Und das, obwohl damals eine „Lehrerschwemme“ herrschte und viele Absolventen nur einen Angestellten-Vertrag erhielten oder sich nach einem anderen Job umsehen mussten.

Von 1979 bis 2011 war ich im Schuldienst tätig, lange Zeit in Vollzeit-Beschäftigung. Unterm Strich kann ich sagen: Es war eine schwere, aber auch anregende Tätigkeit, die häufig Probleme bot, aber auch viel Spaß machte. Am liebsten war mir die Arbeit im Klassenzimmer – am ödesten fand ich die zunehmende Bürokratisierung und das öfters sinnfreie Geschwafel in den Konferenzen. Das Lehrerzimmer betrat ich nur, wenn es gar nicht anders ging.

Leider musste ich erleben, wie sich unsere Arbeitsbedingungen im Lauf der Jahre immer mehr verschlechterten, das Ansehen unseres Berufsstands stetig abnahm. Zu meiner eigenen Schulzeit hieß es noch: „Dein Lehrer wird schon wissen, warum“. Inzwischen lautet die Devise: „Lass dir vom Lehrer ja nichts gefallen!“ Dieser Umschwung hat für den praktischen Schulbetrieb fürchterliche Konsequenzen.

Glücklicherweise konnte ich aus Gesundheitsgründen 2011 die Frühpensionierung erreichen und so die Schule mit einigermaßen stabilem Gemüt verlassen. Ansonsten hätte ich noch weitere gut sechs Jahre in einem System verbringen müssen, dessen Sinn ich immer mehr bezweifelte. Ich glaube nicht, dass ich dies ohne psychischen Knacks überstanden hätte.

Daher kann ich heute bilanzieren: Ich habe hart gearbeitet, oft genug gezwungenermaßen an Dingen, welche ich nicht nur für überflüssig, sondern teilweise für total bescheuert hielt. Und von meinen Schülern habe ich viel verlangt – und sie haben daher auch einiges gelernt. Im Gegenzug habe ich ordentlich verdient und werde nun luxuriös fürs Nichtstun bezahlt.

Ich meine daher: Der Freistaat Bayern und ich sind quitt.

Derzeit ist das Gejammer im Bildungssektor wieder einmal auf einem Höhepunkt: Schätzungsweise fehlen 30000 bis 40000 Lehrkräfte – vor allem in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Ich hätte heute also die Gewissheit, mir auch mit einem miesen Staatsexamen die Einsatzstelle aussuchen zu dürfen.

https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/lehrermangel-bleibt-bundesweit-ein-problem/

Ich kann nur sagen: Der Lehrermangel wundert mich kein bisschen.

Eine Parallele finde ich im Fußball: Seit 2006 ist die Zahl der Schiedsrichter in Deutschland von zirka 80000 auf 45000 zurückgegangen.

https://www.zdf.de/nachrichten/sport/fussball-mangel-wertschaetzung-schiedsrichter-manu-thiele-bolzplatz-100.html

Der Grund ist offensichtlich: Bei Umfragen beklagen um die 80 Prozent der Referees den mangelnden Respekt von Spielern, Trainern und Zuschauern. Beleidigungen und Bedrohungen sind an der Tagesordnung – und wenn man Pech hat, erlebt man auch tätliche Angriffe. Das Problem betrifft vor allem die unteren Amateurligen.

Da ist der Schiedsrichter nämlich meist auf sich allein gestellt. Wie die Lehrkraft im Klassenzimmer. Und die erlebt immer öfter ganz ähnliche Attacken. Und hat nicht mal eine Rote Karte, um Übeltäter vom Feld zu schicken. Stattdessen muss er sich darauf verlassen, dass sein Chef das übernimmt. Häufig ist dies nicht der Fall.

https://www.polizei-dein-partner.de/themen/schule/detailansicht-schule/artikel/gewalt-gegen-lehrer.html

Niemand bestreitet, dass wir in unserer Gesellschaft Menschen brauchen, die für einen geordneten Ablauf die Verantwortung tragen – ob sie nun Schiedsrichter, Lehrer oder Polizisten heißen. Und die muss man zu diesem Zweck mit einer gewissen Entscheidungsgewalt ausstatten.

So sehr dies (noch) allgemeiner Konsens ist: Im konkreten Fall wird das immer weniger akzeptiert, sondern löst hitzige Debatten aus, die natürlich ganz schnell den sachlichen Bereich verlassen und ins Persönliche abgleiten. Da lässt sich ja auch leichter argumentieren.

In unserem Land gibt es nicht nur Millionen von Fußball-Experten, sondern auch immer mehr Eltern, die genau wissen, wie eine Lehrkraft korrekt zu arbeiten hat. Die allerdings das Ansinnen, dann doch selber Schiedsrichter oder Lehrer zu werden, mit Ekelfältchen abweisen: Nein, das täten sie sich nicht an!

Ich habe im Beruf immer wieder nölenden Erziehungsberechtigten angeboten, mich doch mal an einem Schultag fünf Unterrichtsstunden zu begleiten – und zu erleben, wie viele Entscheidungen einem im Kontakt mit über 100 Schülern (und auch Kollegen) abverlangt werden. Da bleibt zum Nachdenken wenig Zeit – vieles muss man spontan und intuitiv lösen. Dass dabei Fehler passieren, ist völlig normal. Das Meiste aber machen die Profis am Pult aber richtig. Weil sie es gelernt haben – nicht zuletzt in jahrelanger Praxis.

In keinem einzigen Fall haben übrigens Eltern mein Angebot angenommen.

Stattdessen wird dann eine Maßnahme, ein Vorfall, bei dem man in nur wenigen Sekunden reagieren muss, hinterher genüsslich in ausführlichen Schriftsätzen und ellenlangem Palaver gedreht und gewendet. Tja, wenn wir Lehrkräfte auch so viel Zeit hätten…

Daher, liebe Eltern: Beschränkt euch auf eure Kernkompetenz und schickt uns die Kinder nicht im asozialen Naturzustand, sondern möglichst als Wesen, welche bereits über grundlegende Vorstellungen gesellschaftlichen Miteinanders verfügen. Und wenigstens grundsätzlich eine Schule besuchen und etwas lernen wollen.Wir können in 45 Minuten-Einheiten euren jahrelangen Murks nämlich höchstens ansatzweise korrigieren!

Und, liebe Vorgesetzte: Lasst eure Kollegen machen – sie haben nämlich das gleiche Studium absolviert wie ihr. Steht hinter ihnen, wenn sie mal wieder wegen irgendeinem Pillepalle angegriffen werden, statt euch windelweich auf den „Schulfrieden“ herauszureden. Und solltet ihr der Meinung sein, es besser zu können, dann verlasst das gemütliche Offizierscasino und kehrt an die Front zurück! Dort brauchen wir nämlich jede Menge gute Leute.

Ach ja, werte Kultusbürokratie: Hört auf damit, die Kollegen im Jahrestakt mit irgendwelchen neuen Unterrichtskonzepten und Lehrplänen zu belästigen! Lehrer sind Menschen und daher verschieden. Jeder muss seine eigene Art des Unterrichtens finden, mit der er erfolgreich ist.

Es ist stets die Persönlichkeit, die eine gute Lehrkraft ausmacht – und nicht das oft nutzlose angeeignete Wissen im Studium. Diese sollte man fördern und nicht planieren.

Die Hierarchien im Bildungswesen müssen flacher werden. Mit meiner Besoldungsgruppe (A 15) hätte es bei der Marine zum Korvettenkapitän gereicht. Im Lehrberuf wurde mir sogar das Zimmer für die Elterngespräche von oben zugeteilt.

Daher finde ich den derzeitigen Lehrermangel völlig verständlich. Ich fürchte, er muss noch schlimmer werden, damit sich die Entscheidungsträger endlich mit den wahren Ursachen beschäftigen und diese beseitigen.

Zirka 75 Prozent der neu ausgebildeten Schiedsrichter hören in den ersten zwei Jahren wieder auf. Der Hauptgrund: Man wolle nicht ein halbes Wochenende damit vertun, beleidigt und angepöbelt zu werden.

Wir Lehrer haben das Problem, dass dies während einer ganzen Arbeitswoche geschieht. Wollen wir uns das geben? Lieber nicht!

Zum Weiterlesen:

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2018/06/warum-ich-sicher-nicht-mehr-lehrer-wurde.html

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2015/10/unversandter-brief-einen-ungehaltenen.html

P.S. Zum alltäglichen Irrsinn:

https://www.youtube.com/watch?v=ukehJuHr3yg