Wieso
ich diesen Beruf überhaupt ergriffen habe? Ich arbeite gerne „vor Publikum“: Vor Menschen
aufzutreten, ihnen etwas „vorzuführen“ (egal, ob Chemie-Experimente oder Zauberkunststücke)
hat mich schon immer fasziniert. Die Sprache
ist für mich ein tolles Medium: die Aufmerksamkeit von Zuhörern zu gewinnen, Zusammenhänge
zu erklären, die Gedanken anderer in bestimmte Bahnen zu lenken – ja, auch
Leute in meinem Sinn zu beeinflussen. Daher auch meine Freude am Kabarett: Als ich mit zirka 12 Jahren
im Fernsehen die ersten Soli von Dieter
Hildebrandt in der „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ erlebte, hat
mich das fürs Leben geprägt.
In
heutigen Zeiten hätte ich es vielleicht gewagt, es als Kabarettist oder
professioneller Zauberkünstler zu probieren – oder etwas dazwischen, was es
selbst derzeit kaum gibt. In den 1960-er Jahren und bei meinem
kleinbürgerlichen Elternhaus war das aber Lichtjahre entfernt! Nach dem Willen meines Vaters hätte ich Friseur
oder Bahnbeamter werden sollen. Schon das Gymnasium
schien für seine Vorstellungen übertrieben – und trotz guten Abiturs sollte ich
mich bestenfalls als Volksschullehrer
(der er selber gern geworden wäre) betätigen.
Immerhin
wagte ich doch das Studium der Biologie
und Chemie für das Lehramt an
Gymnasien – dank staatlicher Studienförderung inklusive diverser leistungsbedingter
Stipendien, die ich vor allem in den Semesterferien mit privaten
Nachhilfestunden aufbesserte. Meine Eltern wollten das nicht finanzieren – und selbst
bei bestem Willen wäre es ihnen sicherlich schwergefallen.
Daher
amüsiere ich mich stets, wenn ich (aufgrund etwas dubioser Studien) höre, wie
sehr doch bei uns der Schulerfolg vom
sozialen Status der Eltern abhinge. Ich kann nur sagen: Mein Studium verdanke
ich der Bundesrepublik Deutschland und der Stiftung Volkswagenwerk – und meinem
selber Hinzuverdienten. Freilich: Urlaub, ein Auslandssemester in Neuseeland
oder die mir angebotene Promotion waren nicht drin. Gerade in Bayern und meinen
Studienfächern rückte der „Einstellungsschnitt“ in immer größere Höhen, da hieß
es möglichst schnell fertig werden –
und wenn möglich mit Bestnoten.
Die
Fächerwahl war von vornherein klar: Chemie
war seit dem 14. Lebensjahr meine Leidenschaft – altersbedingt stark von Pyromanie geprägt. Was ich in der
Pubertät zusammen mit einem Schulfreund in Rauch und Asche aufgehen ließ, würde
heute sicherlich die Experten vom Landeskriminalamt anlocken. Doch zunehmend
stellten wir „ernstere“ Experimente an, fanden auch Spaß am Theoretischen. Biologie dagegen war das notwendige
Anhängsel hinsichtlich der erlaubten Fächerkombinationen: „Betonier den Garten doch und streich ihn grün an“ war der ökologische Vorschlag an
meinen Vater, als ich wieder mal den Rasenrand nicht perfekt mit der Schere
hinbekam. Im Studium jedoch verschoben sich die Interessen: Die
Zulassungsarbeit verfasste ich in Botanik.
Mein
Berufswunsch war stark vom Lehrerbild
der damaligen Zeit geprägt: Gerade am Gymnasium erlebte ich in der Mehrzahl
autoritäre Hansel mit eher mäßiger Befähigung zum Lehramt. Disziplin im Sinne von Kadavergehorsam und Tatsachen-Nachbeten bestimmten den Unterricht. Selbstständigkeit,
eigenes Denken und Urteilen waren nicht direkt angesagt. Der Direktor war eine
gottähnliche Figur – Zweifel hieran fast undenkbar. Was innerhalb des Kollegiums vor sich ging, konnte man
als Schüler natürlich nur ahnen – aber nach außen hin hielt die Bande zusammen
wie Pech und Schwefel. Selbst heftige Entgleisungen wie körperliche
Züchtigungen wurden irgendwie vertuscht. Und bei den Eltern fand man mit Klagen wenig Rückhalt: „Strenge hat noch keinem geschadet“ und „dein Lehrer wird schon wissen, warum“ waren gängige Redensarten –
und Benotungen göttliche Urteile.
Lehrkräfte,
die aus dieser Phalanx ausscherten, hatten es nicht leicht, weder mit uns noch
Kollegen sowie Chef. Einer der wenigen, der unsere Herzen gewann, war Chemie- und Biologielehrer (damals noch
inklusive Geografie) – und wegen seiner Art, uns Schüler wie denkende und
fühlende Menschen zu behandeln, des Direktors liebster Feind. Damals bereits
sensationell: Man durfte ihn mit Familiennamen anreden anstatt mit „Herr Professor“! Mein Entschluss stand schon
in der Oberstufe fest: Ich wollte und konnte es besser machen – verständlicher erklären, Zusammenhänge aufzeigen anstatt
bloße Faktenhuberei zu zelebrieren, vielleicht sogar Begeisterung für meine
Fächer wecken. Und vor allem: zumindest höflich, nach Möglichkeit freundlich zu
bleiben, Schüler nicht als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.
Ich
weiß noch, wie ich meinem Lieblingslehrer
kurz vor dem Abitur klopfenden Herzens gestand, beruflich in seine Fußstapfen treten
zu wollen. Seine Antwort kam zögernd und in besorgtem Tonfall: „Mei‘, Riedl, hast dir des gut überlegt? Es
gibt so schöne Berufe…“ Heute weiß ich: Er hatte Recht mit seiner Skepsis.
Als
ich 1977 mit dem Referendariat
begann, hatte sich in der Schule vieles verändert: Insbesondere war die nach
dem G 8 zweitgrößte Idiotie im bayerischen Bildungswesen verwirklicht: die Kollegstufe. In den Köpfen
klasssenzimmerferner Theoretiker hatte sich das Wunschbild einer Art von „Schmalspur-Uni“ mit damals noch eher
freier Kurswahl etabliert. Die Arroganz,
mit denen die nunmehrigen „Damen und
Herren Kollegiaten“ gerade uns Referendaren gegenübertraten, erinnerte mich
stark an die Umgangsformen meiner einstigen Lehrer.
Beispielsweise
ist es mir noch sehr gut erinnerlich, welches Geschiss man ab diesem Zeitpunkt
mit der „Anwesenheitspflicht“ veranstaltete.
Es war der Beginn des taktikgeprägten stundenweisen
Erkrankens: vormittags im Leistungskurs Mathematik noch gesund, nachmittags
im Grundkurs Religionslehre dann arbeitsunfähig. Statt im Zweifelsfall wie in
der Arbeitswelt ärztliche Krankschreibungen zu verlangen, wurde anfangs sogar
nur eine mündliche Entschuldigung erwartet. Und natürlich gab es Oberstufler,
welche daraus ein Machtspielchen machten und sich dann eben – auch auf
Nachfrage – nicht entschuldigten. Dennoch durfte man sie natürlich über die
letzte Stunde nicht prüfen – sie waren ja nicht da.
Was
einem Arbeitnehmer eine Abmahnung
eingebracht hätte, blieb an der Schule folgenlos: „Fragen Sie mich was Leichteres“ war die Antwort des
Seminarvorstands auf Fragen von uns Referendaren zu diesem Thema. Vielleicht
hätte man ihn auch nicht mit A 16 besolden sollen, wenn dieses Problem seine
Fähigkeiten überstieg… Schulleiter, so meine frühe biologische Erkenntnis, gehören zu den Wirbellosen – Rückgrat haben die meisten keines.
Klar
sah und sieht die Schulordnung für
solche Fälle diverse Konsequenzen vor: Man könnte einen Schüler zum Amtsarzt schicken oder ihn zu einer „Ersatzprüfung“ bestellen, wenn er
mündliche Leistungserhebungen durch fallweises „Erkranken“ auszuhebeln
versucht. Richtig: „Könnte" – der übliche pädagogische Konjunktiv. Ich habe Letzteres einige Male probiert, ohne damit die Sympathie meiner Dienstvorgesetzten zu
erringen: In einem Fall erklärte mein Chef diese Maßnahme sogar für ungültig,
worauf ich mich weigerte, eine Zeugnisnote festzusetzen. In schönster „Solidarität“ besorgte dies dann die
Klassenkonferenz über meinen Kopf hinweg. Meine Beschwerde wurde natürlich abgebügelt – und als Dank erhielt ich
eine schlechtere dienstliche Beurteilung.
Die
Schulordnung sieht für mangelndes Engagement von Schülern auch „Nacharbeiten“ (früher „Nachsitzen“)
vor. Aber auch da kann man ja nachmittäglich spontan erkranken. Eine Mutter
hielt in einem solchen Fall zunächst nicht mal eine mündliche Entschuldigung
für angebracht. Als ich daraufhin ein ärztliches Attest verlangte, schrieb sie
einen Beschwerdebrief, aus dem mir ein Satz (nicht nur wegen der Grammatik)
unvergesslich blieb: „Damit zweifeln Sie
an meine Integrität, was ich Ihnen keinesfalls erlaube.“ Ob sie mit diesem
Spruch auch bei einem Fahrkartenkontrolleur
in der Bahn aufwartete? Aber: Schulleitern kann man mit solchem Schmarrn
durchaus imponieren, was mir daher ein ernstes Gespräch im Chefbüro einbrachte.
Was
uns Referendaren zur Schulordnung und
den gesetzlichen Bestimmungen eingebläut wurde, ist übertrieben: Man stehe
als Lehrer „stets mit einem Fuß im
Gefängnis“, wenn man Formaljuristisches nicht beachte. Exaktheit ist
natürlich dennoch erwünscht. Für Eltern hingegen gilt: Was „ungerecht“ ist, bestimmen sie. Und die Chefs kann man mit Blödsinn
solcher Art schwerstens beeindrucken. Wenn also die Erzeuger (oder Betreuer)
unserer Kundschaft Rabatz machen, sollte man als Lehrkraft lieber nicht auf
Recht und Gesetz bestehen. In solchen Fällen wird nämlich gern die
übergeordnete Karte der „Gefährdung des Schulfriedens“ gezogen.
Soll
heißen: Wenn irgendwelche Eltern eine Presse- und Leserbriefkampagne (oder heute einen Shitstorm) inszenieren, könnte es für den
Schulleiter eng werden. Von Lehrern hingegen hat er Ähnliches nicht zu befürchten
– da steht die dienstliche Schweigepflicht
entgegen. Und selbst, wenn nicht: Wen interessieren schon die Probleme von „faulen Säcken“?
Eindrucksvoll
war meine Erfahrung, als sich an einer neuen Schule die Beschwerden über mich häuften. Ein ziemlich schwacher Chef war wohl
zum Lieblings-Ansprechpartner einer größeren Querulantenschar geworden. Als ich
dann wegen meiner dienstlichen Beurteilung vor das Verwaltungsgericht zog, hörte die Kampagne schlagartig auf. Das
bewies mir, was ich schon lange vermutete. Solchen Eltern geht es nicht um „Gerechtigkeit“
oder gar eine „humane Schule“, im Gegenteil: Das sind reine Machtproben, um herauszufinden, wie
weit man die Institution von außen steuern kann.
Auch den konkreten Anlass, mich mit 60 Jahren frühpensionieren zu lassen, habe ich schon einmal veröffentlicht:
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2015/10/unversandter-brief-einen-ungehaltenen.html
Auch den konkreten Anlass, mich mit 60 Jahren frühpensionieren zu lassen, habe ich schon einmal veröffentlicht:
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2015/10/unversandter-brief-einen-ungehaltenen.html
Ich habe in meinem Beruf schon bald die Erfahrung gemacht: Wir Lehrer haben den Rücken frei, denn hinter uns steht niemand mehr.
Und die Kollegen? Da es vielen, wenn
nicht an fachlicher Kompetenz, so doch mit Sicherheit an Zivilcourage gebricht, sind konsequente
Aktionen oder gar Solidarität
innerhalb des Lehrerzimmers Mangelware. Achselnässe wird gerne als „Realismus“
oder „Verständnis" schön geredet. „Sei halt nicht so“,
bekommt man dann zu hören. Bin ich aber.
Wenn
ich heute daran denke, dass ich vor sieben Jahren noch selber hinter dem Pult
stand, kann ich es kaum glauben – so weit
weg ist das alles. Und ich habe nach dem letzten Dienst-Tag keinen Fuß mehr
in meine Schule gesetzt. Das wird so bleiben (außer, man lädt mich nun wegen
dieses Artikels vor).
Verbittert
bin ich nicht: Die Arbeit im
Klassenzimmer war stets interessant, oft spannend und manchmal sogar lustig.
Daher bedanke ich mich ausdrücklich
bei meinen Schülern, die mir viel
gegeben haben (selbst diejenigen, welche man heute euphemistisch als „verhaltensoriginell“ bezeichnen würde).
Böse kann ich keinem sein. Wenn das System mir derartige Möglichkeiten eröffnen
würde, hätte ich sie vielleicht auch genutzt.
Jungen Kollegen oder
gar Studierenden
für das Lehramt gebe ich, wie mein alter Chemielehrer, den Rat, es sich mit
der Berufswahl gut zu überlegen. Sie müssen sich darauf gefasst machen,
innerhalb eines ziemlich perversen Systems als Einzelkämpfer zu agieren oder sich jeglicher Zivilcourage zu enthalten. Und sie sollten die Zeiten außerhalb des Klassenzimmers möglichst knapp bemessen!
Selber
werde ich im nächsten Leben vielleicht doch Jurist – und dann bediene ich gerne die Klientel, welche mir im
anderen Beruf so zu schaffen machte. Für einen Anwalt gehört es zur Normalität, puren Quatsch zu vertreten. Und er kriegt es sogar noch bezahlt.
P.S.
In Memoriam:
Der
strengste Lehrer, den ich je hatte, unterrichtete uns ein Jahr in Englisch. Er
trat mit einer Verve und Autorität auf, welche heute sofort vor irgendwelchen
Menschenrechts-Gerichtshöfen zur Anklage gebracht würde. In seinem Unterricht
hätte man eine Stecknadel fallen hören können, wenn dies erlaubt gewesen wäre.
Er war ein hochgebildeter Mann, zeigte fallweise sogar einen niveauvollen
Humor, und seine gelegentlichen historischen und philosophischen Exkurse beeindrucken
mich noch heute. Ich verdanke ihm fast meine gesamten Englischkenntnisse.
Später hörten wir gerüchteweise, was angeblich
zu seiner Strenge geführt hatte: Sein bester Studienfreund, der wie er Englisch-
und Geschichtslehrer werden wollte, kam im Schulalltag mit seinen Klassen nicht
zurecht, man tanzte ihm auf der Nase herum. Eines Tages entzog er sich diesem
Dilemma durch Suizid.Pedagogic Fiction |
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