Dienstag, 28. Februar 2017

Gefangen vom Teufelsgeiger


StGB § 239 (1):
Freiheitsberaubung
Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Kann Musikunterricht eine Freiheitsberaubung bedeuten? Diese elementare Frage beschäftigt derzeit die deutsche Justiz. Der Fall in Kurzform:

An einer Realschule im nordrhein-westfälischen Kaarst versuchte ein 50-jähriger Musiklehrer, seiner 6. Klasse in der letzten Stunde die Faszination des „Teufelsgeigers“ Niccolò Paganini nahezubringen.

Der Versuch scheiterte – die Schüler wollten lieber Unsinn machen. Daraufhin änderte der Kollege sein Unterrichtskonzept: Nunmehr war Abschreiben eines Wikipedia-Artikels über den Kunstgeiger angesagt.

Schlimmer noch: Nach Hause gehen dürfe man erst, so der Musiklehrer zehn Minuten vor dem Läuten, wenn er sich vom ordnungsgemäßen Zustand der einzelnen Arbeiten überzeugt habe. Dies führte zu Schlangenbildung und Stau vor der Tür, in welcher sich der Kollege mit Gitarre quer auf dem Schoß postiert hatte.

Diese Situation und ein sich vordrängelnder Schüler führte zu einer kleinen Rangelei, bei der dieser wohl unbeabsichtigt vom Lehrer einen Schubs erhielt, welcher – flugs als Boxhieb gedeutet – beim Sechstklässler zu Bauchweh führte.

Ein Klassenkamerad rief umgehend per Handy die Polizei: An der Schule drehe ein Lehrer durch – er sperre seine Klasse ein und schlage Schüler. Von diesem jungen Mann ging dann offenbar auch die Strafanzeige gegen den Musiklehrer wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung aus. Schon in der ersten Stunde, so der Musikpädagoge, habe er diesen Schüler beim heimlichen Lesen des BGB ertappt. Dessen Rechtfertigung: Er wolle Anwalt werden…

Nichtsdestotrotz fanden die drei mit dem Schulleiter eintreffenden Polizeibeamten eine eher entspannte Situation vor: Die meisten Schüler waren schon gegangen, bei einigen wurden noch die Hefteinträge durchgesehen.

Die Sache landete vor dem Amtsgericht in Neuss, das sich zunächst einmal vertagte, da der Hauptbelastungszeuge (der mit dem Bauchweh) nicht erschienen war. In ihren Aussagen wollten die Schüler den Rempler dann nicht mehr als besonders kräftig oder gar beabsichtigt einstufen, worauf der Lehrer insoweit freigesprochen wurde.

Die Freiheitsberaubung jedoch mochte der Vorsitzende nicht ignorieren und kam so zu einem Schuldspruch, allerdings nur in Form einer „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ (§ 59 StGB): Er möge an einer Fortbildung über den Umgang mit schwierigen Schülern teilnehmen – ansonsten seien 1000 Euro Geldstrafe fällig.

Der verurteilte Kollege bekannte, er sei stets „offen für Tipps“, und es gehe ihm auch nicht um das Geld, sondern um die Sache: Auf Anraten seines Anwalts legte er Berufung ein.

Vor einigen Tagen nun wurde die Sache erneut vor dem Landgericht Düsseldorf verhandelt. Dem Vorsitzenden Richter war wohl von vornherein nach einer Verfahrenseinstellung zumute: „Es ist doch fraglich, ob es Sinn macht, so etwas zu verfolgen." Da aber machte die Staatsanwaltschaft nicht mit – und handelte sich logischerweise einen Freispruch ein.

Ende gut, alles gut? Keineswegs: Die Anklagevertreter haben nun Revision angekündigt. Das Verfahren wird somit beim Bundesgerichtshof landen – und dort sicherlich die angemessene Freude auslösen, sich mit einem solchen Quark abgeben zu müssen!

Um nun zum Paganini-Fall auch meine Meinung zu geigen:

Es spricht schon für die durch Bildungsreformen zunehmende Degeneration, die vom Lehrer angeordnete Stillbeschäftigung – wie die Staatsanwältin meinte – als  „kollektive Strafarbeit“ zu sehen. Hallo, geht’s noch? Immer noch ist der Lehrer frei in der Wahl seiner Unterrichtsmethode, und offenbar gab es in der Krisensituation „Musik in der letzten Stunde“ wohl kein anderes Mittel, die Schüler zu einer halbwegs konzentrierten Arbeit zu bewegen.

Angesichts dieser Rechtsprechung muss ich gestehen, selber wohl öfters straffällig geworden zu sein: „Den Unterricht beende ich und nicht der Gong!“ ist ein Satz, der zu meiner Zeit unter den Kollegen noch Allgemeingut war. Inzwischen gilt wohl ab dem Läuten der Paragraf 239 Strafgesetzbuch…

Völlig aus dem Blick scheint zu geraten, dass man sich bei der Schulanmeldung einem staatlichen Hoheitsverhältnis unterwirft, das Freiheiten einschränkt: Man kann seinen Aufenthaltsort nicht beliebig bestimmen, ja darf nicht einmal unerlaubt sprechen oder gar herumbrüllen, rauchen oder Alkohol trinken. Und man hat gemeinhin die Anweisungen des Lehrpersonals zu befolgen. Wie undemokratisch!

Sicherlich sieht man als Jurist den filigranen Unterschied, ob man als Lehrer die Anweisung gibt, das Klassenzimmer noch nicht zu verlassen, oder dies durch Blockieren der Tür unterbindet. Ein mit allen Paragrafen gewaschener Kollege hätte das Dableiben nicht per Körpereinsatz erzwungen, jedoch jeden Schüler, der verbotswidrig ging, zum Nachsitzen bestellt.

Auf die vermutlich folgenden vielen Stunden der Debatten mit Schülern, Eltern oder Schulleiter darf es uns ja nicht ankommen: „War das wirklich nötig, Herr Kollege – schließlich war doch die Stunde schon zu Ende, und der Schulbus…“

Sollten wir an unserem Arbeitsplatz auch einmal jedes Gebrüll über 70 Dezibel, jede Beleidigung oder psychischen Terror von Schüler- und Elternseite mit Strafanträgen und Schmerzensgeldklagen quittieren? Da hätte die Justiz gut zu tun…

Auf die Milde, welche die Strafverfolgungsbehörden jugendlichen Rasern (jedenfalls bis gestern) angedeihen ließen, dürfen wir Lehrer jedoch nicht hoffen. Es wäre der Staatanwaltschaft möglich gewesen, das Ermittlungsverfahren wegen erwiesenem Pipifax zu beenden, dem Gericht, die Anklage nicht zuzulassen oder ebenso nach § 153 StPO wegen geringer Schuld einzustellen. Aber – so steht zu befürchten – mindestens einer der Beteiligten hat wohl Kinder an der Schule, die „ungerecht behandelt werden“.

Wahrscheinlich werden die höchsten deutschen Strafrichter in Karlsruhe den Verfolgungstrieb der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ziemlich abbürsten – und vielleicht führt dies beim einen oder anderen Anklagevertreter wenigstens zu einer schlechteren dienstlichen Beurteilung – so wie vermutlich bei dem Lehrerkollegen, da er „mangelndes pädagogisches Geschick“ gezeigt hat.

Dienstvorgesetzte und Schulaufsichtsbehörde dagegen – so ist sicher anzunehmen, werden nicht dafür sanktioniert, die Lehrer täglich in eine Schlacht zu schicken, nachdem sie ihnen vorher alle Waffen abgenommen haben.

Wie sagte unser Musiklehrer so schön zu seiner „Paganini-Affäre“:

"Alle Welt sagt uns, wie wir es besser machen können, aber keiner kommt und macht es vor."

P.S. Einige Quellen zum Thema:

http://www.xing-news.com/reader/news/articles/617829?link_position=digest&newsletter_id=20030&toolbar=true&xng_share_origin=email

http://www.xing-news.com/reader/news/articles/617829?link_position=digest&newsletter_id=20030&toolbar=true&xng_share_origin=email
http://www.news4teachers.de/2016/08/vbe-zum-freiheitsberaubungs-urteil-gegen-einen-lehrer-paedagogen-sind-immer-oefter-zahnlose-tiger/