StGB § 239 (1):
Freiheitsberaubung
Wer einen
Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Kann Musikunterricht eine Freiheitsberaubung bedeuten? Diese elementare
Frage beschäftigt derzeit die deutsche Justiz. Der Fall in Kurzform:
An einer Realschule im nordrhein-westfälischen Kaarst versuchte ein
50-jähriger Musiklehrer, seiner 6. Klasse in der letzten Stunde die Faszination
des „Teufelsgeigers“ Niccolò Paganini nahezubringen.
Der Versuch scheiterte – die Schüler wollten lieber Unsinn machen.
Daraufhin änderte der Kollege sein Unterrichtskonzept: Nunmehr war Abschreiben
eines Wikipedia-Artikels über den Kunstgeiger angesagt.
Schlimmer noch: Nach Hause gehen dürfe man erst, so der Musiklehrer zehn
Minuten vor dem Läuten, wenn er sich vom ordnungsgemäßen Zustand der einzelnen
Arbeiten überzeugt habe. Dies führte zu Schlangenbildung und Stau vor der
Tür, in welcher sich der Kollege mit Gitarre quer auf dem Schoß postiert hatte.
Diese Situation und ein sich vordrängelnder Schüler führte zu einer
kleinen Rangelei, bei der dieser wohl unbeabsichtigt vom Lehrer einen
Schubs erhielt, welcher – flugs als Boxhieb gedeutet – beim Sechstklässler zu
Bauchweh führte.
Ein Klassenkamerad rief umgehend per Handy die Polizei: An der Schule drehe
ein Lehrer durch – er sperre seine Klasse ein und schlage Schüler. Von diesem
jungen Mann ging dann offenbar auch die Strafanzeige gegen den Musiklehrer
wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung aus. Schon in der ersten Stunde,
so der Musikpädagoge, habe er diesen Schüler beim heimlichen Lesen des BGB
ertappt. Dessen Rechtfertigung: Er wolle Anwalt werden…
Nichtsdestotrotz fanden die drei mit dem Schulleiter eintreffenden
Polizeibeamten eine eher entspannte Situation vor: Die meisten Schüler waren
schon gegangen, bei einigen wurden noch die Hefteinträge durchgesehen.
Die Sache landete vor dem Amtsgericht in Neuss, das sich zunächst einmal
vertagte, da der Hauptbelastungszeuge (der mit dem Bauchweh) nicht erschienen
war. In ihren Aussagen wollten die Schüler den Rempler dann nicht mehr als besonders
kräftig oder gar beabsichtigt einstufen, worauf der Lehrer insoweit
freigesprochen wurde.
Die Freiheitsberaubung jedoch mochte der Vorsitzende nicht ignorieren und
kam so zu einem Schuldspruch, allerdings nur in Form einer „Verwarnung mit
Strafvorbehalt“ (§ 59 StGB): Er möge an einer Fortbildung über den Umgang mit
schwierigen Schülern teilnehmen – ansonsten seien 1000 Euro Geldstrafe fällig.
Der verurteilte Kollege bekannte, er sei stets „offen für Tipps“, und es
gehe ihm auch nicht um das Geld, sondern um die Sache: Auf Anraten seines
Anwalts legte er Berufung ein.
Vor einigen Tagen nun wurde die Sache erneut vor dem Landgericht
Düsseldorf verhandelt. Dem Vorsitzenden Richter war wohl von vornherein nach
einer Verfahrenseinstellung zumute: „Es ist doch fraglich, ob es Sinn macht, so
etwas zu verfolgen." Da aber machte die Staatsanwaltschaft nicht mit – und
handelte sich logischerweise einen Freispruch ein.
Ende gut, alles gut? Keineswegs: Die Anklagevertreter haben nun Revision
angekündigt. Das Verfahren wird somit beim Bundesgerichtshof landen – und dort
sicherlich die angemessene Freude auslösen, sich mit einem solchen Quark abgeben
zu müssen!
Um nun zum
Paganini-Fall auch meine Meinung zu geigen:
Es spricht schon für die durch Bildungsreformen zunehmende Degeneration,
die vom Lehrer angeordnete Stillbeschäftigung – wie die Staatsanwältin meinte –
als „kollektive Strafarbeit“ zu sehen.
Hallo, geht’s noch? Immer noch ist der Lehrer frei in der Wahl seiner
Unterrichtsmethode, und offenbar gab es in der Krisensituation „Musik in der
letzten Stunde“ wohl kein anderes Mittel, die Schüler zu einer halbwegs konzentrierten
Arbeit zu bewegen.
Angesichts dieser Rechtsprechung muss ich gestehen, selber wohl öfters
straffällig geworden zu sein: „Den Unterricht beende ich und nicht der Gong!“
ist ein Satz, der zu meiner Zeit unter den Kollegen noch Allgemeingut war.
Inzwischen gilt wohl ab dem Läuten der Paragraf 239 Strafgesetzbuch…
Völlig aus dem Blick scheint zu geraten, dass man sich bei der
Schulanmeldung einem staatlichen Hoheitsverhältnis unterwirft, das Freiheiten
einschränkt: Man kann seinen Aufenthaltsort nicht beliebig bestimmen, ja darf nicht
einmal unerlaubt sprechen oder gar herumbrüllen, rauchen oder Alkohol trinken.
Und man hat gemeinhin die Anweisungen des Lehrpersonals zu befolgen. Wie
undemokratisch!
Sicherlich sieht man als Jurist den filigranen Unterschied, ob man als
Lehrer die Anweisung gibt, das Klassenzimmer noch nicht zu verlassen, oder dies
durch Blockieren der Tür unterbindet. Ein mit allen Paragrafen gewaschener
Kollege hätte das Dableiben nicht per Körpereinsatz erzwungen, jedoch jeden
Schüler, der verbotswidrig ging, zum Nachsitzen bestellt.
Auf die vermutlich folgenden vielen Stunden der Debatten mit Schülern, Eltern
oder Schulleiter darf es uns ja nicht ankommen: „War das wirklich nötig, Herr Kollege – schließlich war doch die Stunde
schon zu Ende, und der Schulbus…“
Sollten wir an unserem Arbeitsplatz auch einmal jedes Gebrüll über 70
Dezibel, jede Beleidigung oder psychischen Terror von Schüler- und Elternseite
mit Strafanträgen und Schmerzensgeldklagen quittieren? Da hätte die Justiz gut
zu tun…
Auf die Milde, welche die Strafverfolgungsbehörden jugendlichen
Rasern (jedenfalls bis gestern) angedeihen ließen, dürfen wir Lehrer jedoch
nicht hoffen. Es wäre der Staatanwaltschaft möglich gewesen, das
Ermittlungsverfahren wegen erwiesenem Pipifax zu beenden, dem Gericht, die
Anklage nicht zuzulassen oder ebenso nach § 153 StPO wegen geringer Schuld einzustellen. Aber – so steht
zu befürchten – mindestens einer der Beteiligten hat wohl Kinder an der Schule,
die „ungerecht behandelt werden“.
Wahrscheinlich werden die höchsten deutschen Strafrichter in Karlsruhe den
Verfolgungstrieb der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ziemlich abbürsten – und vielleicht
führt dies beim einen oder anderen Anklagevertreter wenigstens zu einer
schlechteren dienstlichen Beurteilung – so wie vermutlich bei dem
Lehrerkollegen, da er „mangelndes pädagogisches Geschick“ gezeigt hat.
Dienstvorgesetzte und Schulaufsichtsbehörde dagegen – so ist sicher
anzunehmen, werden nicht dafür sanktioniert, die Lehrer täglich in eine
Schlacht zu schicken, nachdem sie ihnen vorher alle Waffen abgenommen haben.
Wie sagte unser Musiklehrer so schön zu seiner „Paganini-Affäre“:
P.S. Einige Quellen zum Thema:
http://www.xing-news.com/reader/news/articles/617829?link_position=digest&newsletter_id=20030&toolbar=true&xng_share_origin=email
http://www.xing-news.com/reader/news/articles/617829?link_position=digest&newsletter_id=20030&toolbar=true&xng_share_origin=email
http://www.news4teachers.de/2016/08/vbe-zum-freiheitsberaubungs-urteil-gegen-einen-lehrer-paedagogen-sind-immer-oefter-zahnlose-tiger/
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