Sonntag, 26. Mai 2024

Code 444

Die ekelhaften Parolen von der Insel Sylt dürften nun hinlänglich bekannt sein. Auch, dass die Akteure wohl zu den Besserverdienern gehören: Beteiligt war offenbar unter anderem eine Hamburger Studentin aus vermögendem Hause, eine Mitarbeiterin im Influencer-Bereich, Angestellte von Werbeagenturen und Telemedien sowie der Beschäftigte einer Bank.

Die Betreffenden kriegen nun nicht nur juristischen Ärger, sondern wohl auch mit ihren Arbeitgebern: Angeblich wurden schon zwei fristlose Kündigungen ausgesprochen, etliche weitere Firmen prüfen solche Schritte. Recht so! Das sind Maßnahmen, die richtig wehtun – im Gegensatz zu den erwartbaren Geldstrafen, welche das Schampus-Volk wohl ohne größere Schmerzen löhnen dürfte. Immerhin gilt man dann eventuell  als vorbestraft (oberhalb von 90 Tagessätzen) – dürfte möglicherweise bei neuen Bewerbungen ungut wirken…

Bleibt abzuwarten, wie die wahrscheinlich angerufenen Arbeitsgerichte den Fall sehen. Natürlich darf der Arbeitnehmer grundsätzlich seine Freizeit gestalten, wie er möchte. Allerdings sollte er Aktionen vermeiden, die den Arbeitgeber öffentlich in ein schlechtes Licht rücken. Die Shitstorms gegen konkret betroffene Firmen zeigen, dass ein Verlust der Firmen-Reputation droht. Daher vermute ich: Der Arbeitsplatz dürfte weg sein – eventuell wird eine Abfindung rausspringen, mehr nicht.

Der Betreiber des Sylter Restaurants versichert nun, er und auch seine Angestellten hätten von der Schweinerei wegen des Krachs nichts mitbekommen. Immerhin hat er bei der Identifizierung der mutmaßlichen Täter mitgeholfen, Anzeige erstattet und lebenslange Hausverbote erteilt.

Wenn man sich das kursierende Video anschaut, ist jedoch klar, dass zumindest viele Umstehende die skandierten Parolen gehört haben müssen, was sie aber nicht zu Gegenmaßnahmen trieb. Und auch das Video wurde von einer Person aufgenommen, die fleißig mittat – und die anschließend noch so bescheuert war, es ins Netz zu stellen.

Niedlich finde ich es, dass Politiker und Journalisten nun feststellen, rechtsradikale Einstellungen seien jetzt „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“. Sorry, aber da waren sie seit jeher durchaus beheimatet! Reaktionäres Denken war und ist kein Privileg der Unterschicht. Man darf daran erinnern, dass auch die Original-Nazis von großen Teilen der Industrie und des Bürgertums unterstützt wurden. Sonst wären sie nie an die Macht gekommen.

Ich bin in einer Garnisonsstadt aufgewachsen und erinnere mich noch genau, wer damals linke und pazifistische Einstellungen mit ultrarechten Sprüchen quittiert hat. Und wie die lokale Presse dabei mitgemischt hat. Kein Wunder – der Herausgeber des städtischen Monopolblatts war ein alter Nazi. Das durfte man jedoch erst Jahrzehnte später offiziell feststellen…

Nun kann man mir gar nicht so viel Geld zahlen, dass ich auf einer Insel Urlaub machen würde, wo sich anscheinend reiche Seckel herumtreiben, deren Schwerpunkt sich eher in Höhe des Geldbeutels als des Gehirns befindet. Und wo man statt eines Gewissens einen Kaschmirpulli trägt. Echt – wenn das „deutsch“ wäre, zöge es mich wieder nach Tschechien, dem Land meiner Vorfahren.

Aber so ist es ja nicht – Kurt Tucholsky hat in seinem Text „Heimat“ wunderbar ausgedrückt:

„Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ‚national‘ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.

Sie reißen den Mund auf und rufen: ‚Im Namen Deutschlands ...!‘ Sie rufen: Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.‘ Es ist nicht wahr. (…)

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser Deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluss und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: Es ist unser Land.“

https://www.youtube.com/watch?v=3cDVYBYr-rk

https://de.wikisource.org/wiki/Heimat_(Tucholsky)

Tucholsky gehörte zu den bestbezahlten Autoren der Weimarer Republik und war jüdischer Abstammung. Den obigen Text verfasste er 1929. Vier Jahre später wurde er von den Nazis ausgebürgert und floh nach Schweden, wo er 1935 an einer Überdosis Schlaftabletten verstarb.

Vielleicht sollte man den Hirnlosen von der Strandbar als Auflage zu einem Aufsatz über den großen deutschen Satiriker verdonnern. Nicht unter 10000 Wörtern. Und in gutem Deutsch.

Aber das deutschnationale Gedankengut ist ja nicht auf Promi-Inseln beschränkt. In den letzten Tagen erfuhren wir, dass es deutschlandweit zahlreiche solcher Vorfälle gab – meist in der Kombination Musik plus Alkohol.

Vorlage ist meist der Song „L'amour Toujours" von Gigi D'Agostino. Zirka 25 Jahre hat das Stück auf dem Buckel, neuerdings ist es auch in einer „synthetischen“ Version für die Clubs erschienen. Natürlich geht es in dem Lied ausschließlich um Liebe, weshalb sich der Komponist deutlich von der anderen Verwendung distanzierte.

Die entstand jedoch nicht aus einer Party- und Sektlaune, sondern wurde seit Ende letzten Jahres systematisch von rechtsradikalen Gruppen gesteuert. Auf vielen Kanälen ist vom „Code 444“ die Rede – also dreimal der 4. Buchstabe des Alphabets: „DDD“ – sprich „Deutschland den Deutschen“.

Interessant, dass Leute, die sich vom Staat sonst eher wenig sagen lassen, sich von plumpen Propagandisten vom rechten Rand instrumentalisieren lassen. Doch Neinsagen gehört in solchen Fällen wohl nicht zur „deutschen Leitkultur“.

Kurt Tucholsky schrieb schon 1921:

„Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.

Quellen:

https://www.sueddeutsche.de/panorama/sylt-video-rassismus-anzeige-lux.Hzj4RLkVwpn9W5TBaDYvXv

https://www.sueddeutsche.de/politik/nazi-parolen-empoerung-ueber-sylter-skandalvideo-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240525-99-158199

https://www.bluewin.ch/de/news/vermischtes/sylter-prosecco-nazis-verlieren-ihren-job-2216094.html

https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Nazi-Parolen-auf-Sylt-Arbeitgeber-kuendigen-Konsequenzen-an,sylt1666.html

https://www.abendblatt.de/region/schleswig-holstein/sylt/article242405660/sylt-rechtsextremismus-nazis-skandal-party-pony-kampen-pfingsten-auslaender-raus-gigi-dagostino-nazis-2.html

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