Vor
ziemlich genau 90 Jahren, am 23.1.1930, kam es zur ersten deutschen Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP. Wo? In Thüringen.
Die
rechtsbürgerlich-nationalsozialistische Koalition
verfügte über 28 Mandate (davon 6 der NSDAP) bei insgesamt 53
Landtagsabgeordneten und bestand aus der Deutschen Volkspartei, der Deutschnationalen
Volkspartei, dem Thüringer Landbund, der Reichspartei des Deutschen
Mittelstandes sowie der NSDAP.
Innenminister
wurde der Nationalsozialist Wilhelm Frick, der dieses Amt
später auch im Deutschen Reich bekleidete. Ministerpräsident war Erwin Baum vom Thüringer Landbund.
Am
29.3.1930 wurde ein Ermächtigungsgesetz
beschlossen, mit dem die Regierung für ein halbes Jahr per Verordnung ohne
parlamentarische Kontrolle agieren konnte. Der Minister für Inneres und
Volksbildung, Wilhelm Frick, konnte
auf diese Weise sozialdemokratische und kommunistische Beamte und Bürgermeister
entlassen, sie durch Nationalsozialisten ersetzen, eine neue Landespolizei
formieren und Erscheinungsverbote für Zeitungen verfügen. Er verfasste den
Erlass „Wider die Negerkultur für
deutsches Volkstum“, um die „Verseuchung
durch fremdrassige Unkultur“ zu unterbinden. Eine Vielzahl von
Theaterveranstaltungen und Filmvorführungen mit pazifistischen Inhalten wurden
untersagt.
Bei
der nächsten Landtagswahl am 31.7. 1932 siegte die NSDAP mit 42,5 Prozent
der Stimmen. Neuer Ministerpräsident wurde der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel.
Am
5.2.2020 wurde im Thüringer Landtag – statt des bisherigen Amtsinhabers Bodo Ramelow (Die Linke) – der
FDP-Fraktionsvorsitzende Thomas
Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum neuen Ministerpräsidenten
gewählt. In Kenntnis dieser Tatsache nahm er die Wahl an.
Der
ehemalige Bundesinnenminister Gerhart
Baum (FDP) sagte dazu: „Ein Hauch
Weimar liegt über der Republik. Ich
bin ein alter Mann, 87 Jahre alt. Mir stecken die Schrecken der Nazis und
übrigens auch der Nachkriegszeit, in der das Naziwesen noch lebendig war, tief
in den Knochen. Und ich sehe in dieser Entscheidung in Thüringen einen Schritt
in Richtung Weimar." Die Parallele bestehe darin, dass der
Rechtsextremismus wieder tief aus der Mitte des Bürgertums komme.
Ich
ahne, woran der gestandene Alt-Liberale denkt:
Am
24.3.1933 stimmte der Deutsche Reichstag in der Kroll-Oper über das von der Reichsregierung
eingebrachte Ermächtigungsgesetz ab,
welches die Rechte des Parlaments faktisch außer Kraft setzte.
Die
Abstimmung endete mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit
für das Gesetz:
Die
81 Abgeordneten der KPD waren bereits verhaftet oder untergetaucht.
Von
den 120 SPD-Reichstagsmitgliedern waren 26 inhaftiert oder geflohen.
Es
wurden 538 gültige Stimmen abgegeben. Lediglich die 94 anwesenden Abgeordneten
der SPD stimmten mit Nein. Alle anderen Vertreter der bürgerlichen Parteien
gaben dem Gesetz ihre Zustimmung – oft eingeschüchtert durch Bedrohungen gegen
sie oder ihre Familien. Insgesamt gab es 444
Ja-Stimmen. Die NSDAP allein verfügte
nur über 288 Reichstagsmitglieder.
Für
die Liberalen (Deutsche Staatspartei,
5 Abgeordnete) begründete das Ja damals der Fraktionsvorsitzende Reinhold Maier:
„Wir fühlen uns in
den großen nationalen Zielen durchaus mit der Auffassung verbunden, wie sie
heute vom Herrn Reichskanzler vorgetragen wurde […]. Wir verstehen, dass die
gegenwärtige Reichsregierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört
arbeiten zu können […]. Im Interesse von Volk und Vaterland und in der
Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken
zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“
Bis
heute ist jeder Sozialdemokrat (also auch ich) stolz auf die tapferen 94 SPD-Abgeordneten, die damals –
bereits umstellt von SS- und SA-Männern – als einzige gegen die Abschaffung der Demokratie stimmten. In
seiner legendären Rede sagte damals der Fraktionsvorsitzenden Otto Wels:
„„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen
Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, der
Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht,
Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. […]
Wir grüßen die Verfolgten und
Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue
verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen
eine hellere Zukunft.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz_vom_24._M%C3%A4rz_1933Otto Wels (1873-1939) |
Ich hatte
eigentlich gehofft, dass es in meinem Leben selbstverständlich sei und bleibe, Rechtsradikalismus abzulehnen. Dass es
keinen Mut mehr brauche, gegen Nazis
zu sein. Offenbar habe ich mich geirrt.
Wie es Willy Brandt einmal ausdrückte: „Wir waren schon mal weiter.“
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