Mittwoch, 5. Februar 2020

Die Schande von Erfurt


Vor ziemlich genau 90 Jahren, am 23.1.1930, kam es zur ersten deutschen Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP. Wo? In Thüringen.

Die rechtsbürgerlich-nationalsozialistische Koalition verfügte über 28 Mandate (davon 6 der NSDAP) bei insgesamt 53 Landtagsabgeordneten und bestand aus der Deutschen Volkspartei, der Deutschnationalen Volkspartei, dem Thüringer Landbund, der Reichspartei des Deutschen Mittelstandes sowie der NSDAP.
Innenminister wurde der Nationalsozialist Wilhelm Frick, der dieses Amt später auch im Deutschen Reich bekleidete. Ministerpräsident war Erwin Baum vom Thüringer Landbund.

Am 29.3.1930 wurde ein Ermächtigungsgesetz beschlossen, mit dem die Regierung für ein halbes Jahr per Verordnung ohne parlamentarische Kontrolle agieren konnte. Der Minister für Inneres und Volksbildung, Wilhelm Frick, konnte auf diese Weise sozialdemokratische und kommunistische Beamte und Bürgermeister entlassen, sie durch Nationalsozialisten ersetzen, eine neue Landespolizei formieren und Erscheinungsverbote für Zeitungen verfügen. Er verfasste den Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“, um die „Verseuchung durch fremdrassige Unkultur“ zu unterbinden. Eine Vielzahl von Theaterveranstaltungen und Filmvorführungen mit pazifistischen Inhalten wurden untersagt.

Bei der nächsten Landtagswahl am 31.7. 1932 siegte die NSDAP mit 42,5 Prozent der Stimmen. Neuer Ministerpräsident wurde der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel.

Am 5.2.2020 wurde im Thüringer Landtag – statt des bisherigen Amtsinhabers Bodo Ramelow (Die Linke) – der FDP-Fraktionsvorsitzende Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU und AfD zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. In Kenntnis dieser Tatsache nahm er die Wahl an.

Für den entscheidenden 3. Wahlgang hatte die AfD wieder den parteilosen Kommunalpolitiker Christoph Kindervater ins Rennen geschickt. Dieser erhielt jedoch überraschenderweise keine einzige Stimme. Damit ist die geplante Weiterführung der rot-rot-grünen Landesregierung gescheitert.



Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) sagte dazu: „Ein Hauch Weimar liegt über der Republik. Ich bin ein alter Mann, 87 Jahre alt. Mir stecken die Schrecken der Nazis und übrigens auch der Nachkriegszeit, in der das Naziwesen noch lebendig war, tief in den Knochen. Und ich sehe in dieser Entscheidung in Thüringen einen Schritt in Richtung Weimar." Die Parallele bestehe darin, dass der Rechtsextremismus wieder tief aus der Mitte des Bürgertums komme.

Ich ahne, woran der gestandene Alt-Liberale denkt:

Am 24.3.1933 stimmte der Deutsche Reichstag in der Kroll-Oper über das von der Reichsregierung eingebrachte Ermächtigungsgesetz ab, welches die Rechte des Parlaments faktisch außer Kraft setzte.

Die Abstimmung endete mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für das Gesetz:

Die 81 Abgeordneten der KPD waren bereits verhaftet oder untergetaucht.
Von den 120 SPD-Reichstagsmitgliedern waren 26 inhaftiert oder geflohen.
Es wurden 538 gültige Stimmen abgegeben. Lediglich die 94 anwesenden Abgeordneten der SPD stimmten mit Nein. Alle anderen Vertreter der bürgerlichen Parteien gaben dem Gesetz ihre Zustimmung – oft eingeschüchtert durch Bedrohungen gegen sie oder ihre Familien. Insgesamt gab es 444 Ja-Stimmen. Die NSDAP allein verfügte nur über 288 Reichstagsmitglieder.

Für die Liberalen (Deutsche Staatspartei, 5 Abgeordnete) begründete das Ja damals der Fraktionsvorsitzende Reinhold Maier:

„Wir fühlen uns in den großen nationalen Zielen durchaus mit der Auffassung verbunden, wie sie heute vom Herrn Reichskanzler vorgetragen wurde […]. Wir verstehen, dass die gegenwärtige Reichsregierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört arbeiten zu können […]. Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“

Bis heute ist jeder Sozialdemokrat (also auch ich) stolz auf die tapferen 94 SPD-Abgeordneten, die damals – bereits umstellt von SS- und SA-Männern – als einzige gegen die Abschaffung der Demokratie stimmten. In seiner legendären Rede sagte damals der Fraktionsvorsitzenden Otto Wels:

„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. […]
Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz_vom_24._M%C3%A4rz_1933

Otto Wels (1873-1939)

Ich hatte eigentlich gehofft, dass es in meinem Leben selbstverständlich sei und bleibe, Rechtsradikalismus abzulehnen. Dass es keinen Mut mehr brauche, gegen Nazis zu sein. Offenbar habe ich mich geirrt.

Wie es Willy Brandt einmal ausdrückte: „Wir waren schon mal weiter.“

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