Was
mich hinsichtlich der Krise in Thüringen
seit Tagen umtreibt: Warum fanden es zunächst weder FDP-Chef Christian Lindner noch gar sein Landesvorsitzender Thomas Kemmerich so besonders schlimm,
dass sich ein FDP-Vertreter von der AfD ins Ministerpräsidenten-Amt hieven
ließ? Bekanntlich bedurfte es eines größeren
Bebens quer durch einen Großteil der Gesellschaft, bis man 24 Stunden später
endlich zurückruderte!
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aus Spaß gab ich bei Google einmal die Suchbegriffe „FDP Nazi Vergangenheit“ ein und fand ziemlich Entsetzliches: Bei
„Wikipedia“ gibt es eine Liste ehemaliger
NSDAP-Mitglieder, die nach 1945 wieder politisch tätig waren.
In dieser sind FDP-Politiker
auffallend häufig vertreten (in Klammern ist jeweils die Zeit ihrer
NSDAP-Mitgliedschaft angegeben):
Achenbach Ernst (1937-1945): ab 1950
Landtagsabgeordneter NRW, 1957-1976 Mitglied des Bundestags, 1964-1977 Mitglied
des Europaparlaments
Angermeyer Joachim (ab 1941): 1976-1980
Mitglied des Bundestags
Aschoff Albrecht (ab 1933): 1961-1965
Mitglied des Bundestags
Berg Hermann (ab 1937): 1955-1957
Mitglied des Bundestags
Bucher Ewald (bis 1945; auch
SA-Mitglied): 1962-1965 Bundesminister der Justiz, 1965-1966 Bundesminister für
Wohnungswesen und Städtebau. 1953-1969 Mitglied des Bundestags
Burckardt Richard (ab 1940): 1961-1965
Mitglied des Bundestags
Dahlgrün Rolf (1933-1945):
1962-1966 Bundesminister der Finanzen, 1957-1969 Mitglied des Bundestags
Dannemann Robert (ab 1933): 1949-1955
Mitglied des Bundestags
Dreyer Nicolaus (ab 1939): 1963–1970
Mitglied des Niedersächsischen Landtages,
1972–1980 Mitglied des Bundestages
1972–1980 Mitglied des Bundestages
Dürr Hermann (ab 1942): 1957–1965
und 1969–1980 (dann SPD) Mitglied des Bundestages
Effertz Josef (ab 1933): 1961–1968
Mitglied des Bundestages
Ertl Josef (ab 1943): 1969-1983
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, 1961 bis 1987
Mitglied des Bundestags
Frank Karl (ab 1937): 1951–1960
Finanzminister in Baden-Württemberg,
1952-1964 Mitglied des Baden-Württembergischen Landtages
1952-1964 Mitglied des Baden-Württembergischen Landtages
Köhler Otto (1933-1945): 1957–1960
Mitglied des Deutschen Bundestages
Kohlhase Hermann (1937-1945,
SS-Hauptsturmbannführer, Militärrichter der Waffen-SS): 1956 bis 1958 Wirtschaftsminister
in NRW, 1966-1970 Minister für Landesplanung in NRW
Lange Heinz (1938-1945,
Waffen-SS): Mitglied des Landtags NRW 1954-1975, dort stellvertretender Vorsitzender
der FDP-Fraktion 1966-1969 und Vorsitzender dieser Fraktion 1969-1970
Mix Erich (Mitglied der SS 1932–1934
und 1939–1945, zuletzt Standartenführer): 1958 bis 1966 Mitglied des Hessischen
Landtags und von 1961 bis 1963 Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion, 1962-1966
Landtagsvizepräsident
Oberländer Theodor (1933-1945):
1953-1961 Mitglied des Bundestags, 1953-1960 Bundesvertriebenenminister;
zunächst FDP, dann BHE, später CDU
Reichmann Martin (1932-1945): 1961–1969
Mitglied des Bundestages
Rieger Alfred (1931-1945,
NSDAP-Kreisleiter): 1961–1970 Mitglied des Landtags NRW
Saam Hermann (1933-1945): 1952–1955
und 1960–1964 Mitglied des Baden-Württembergischen Landtages, 1965–1969
Mitglied des Bundestags,1966–1968 Mitglied des Bundesvorstandes der FDP
Schwann Hermann (1933-1945): 1953–1957
Mitglied des Deutschen Bundestages, 1961 FDP-Austritt
Stegner Artur (1931-1945): 1949–1957
Mitglied des Bundestages, 1951 Landtagsabgeordneter in Niedersachsen, ab 1949
Landesvorsitzender der FDP in Niedersachsen, 1954 FDP-Austritt
Weirauch Lothar (1934-1945):
1950-1954 FDP-Bundesgeschäftsführer, später Ministerialbeamter in Bonn,
angeblich Stasi-Spion
Weyer Willy (1937-1945):
1956-1972 FDP-Landesvorsitzender NRW, 1963-1975 stellvertretender
FDP-Bundesvorsitzender, 1950-1976 Mitglied des Landtags NRW, 1954–1958 und
1962–1975 Minister in NRW, zeitweise stellvertretender Ministerpräsident
Zoglmann Siegfried (1934-1945, ab 1942
Waffen-SS): 1963–1968 Mitglied des Landtages NRW, 1957–1976 Mitglied des
Bundestages, ab 1974 CSU
Die
Liste führt sogar so prominente Namen wie Walter
Scheel und Hans-Dietrich Genscher
auf, deren Mitgliedschaften allerdings ziemlich kurzfristig bzw. historisch
umstritten sind.
Diskreditiert eine solche Nazi-Parteimitgliedschaft politisch für
alle Zeiten? Wohl nicht – man muss da schon die genauen Umstände und vor allem die Glaubwürdigkeit einer Neuorientierung berücksichtigen.
Man
kann sich zu jedem der obigen Namen
auf Wikipedia die Vita genauer
ansehen und findet dann Erstaunliches: Eine Anzahl dieser Herren machte aus
ihrer rechten Gesinnung auch nach
1945 keinen Hehl und engagierte sich für einschlägige
Projekte wie einen Stopp der Entnazifizierung oder gegen eine Verlängerung der
Verjährungsfrist für Mord, um so die Verfolgung von NS-Verbrechern nicht weiter zu
ermöglichen.
Weder
in der Partei noch gesellschaftlich schien dies den Politikern geschadet zu
haben: Reihenweise liest man in den Lebensbeschreibungen von Ehrenbürgerschaften und Bundesverdienstkreuzen.
Auch
die Vertreter anderer Parteien, vor
allem CDU und CSU, kommen in der obigen Liste sehr häufig vor. Ohne Zweifel: Rechtsradikale Einstellungen und Antisemitismus waren in Deutschland
nach 1945 nicht verschwunden, sondern lebten gerade in bürgerlichen Kreisen
weiter. Wenn die AfD heute von „bürgerlichen
Mehrheiten“ spricht, sollte man das wissen!
Allerdings
trieb es die FDP vor allem in den 1950-er Jahren besonders schlimm; der
Begriff „nationalliberal“ klingt da
wie ein Euphemismus:
Inzwischen
nahezu unbekannt dürfte der „Naumann-Kreis“
sein, eine Gruppe ehemaliger Nazis um den letzten Staatssekretär im
Reichspropaganda-Ministerium von Joseph Goebbels, Werner Naumann. Dieses Netzwerk versuchte in den Jahren 1952/53,
den NRW-Landesverband der FDP zu unterwandern. Obwohl diese Umtriebe klar
verfassungswidrig waren, weigerten sich die deutschen Behörden, einzugreifen.
Schließlich
wurde es der britischen Besatzungsmacht
zu bunt: Im Januar 1953 verhaftete
sie auf der Grundlage der alliierten Vorbehaltsrechte die führenden Mitglieder
des Kreises. Der Bundesgerichtshof stellte die Verfahren jedoch im Sommer 1953
ein.
Eindrucksvoll
sind die Berichte der damals sehr jungen FDP-Politiker Gerhart Baum und Hildegard
Hamm-Brücher:
Nun
könnte man natürlich einwenden: Was soll der „Schnee von vorgestern“? Offenbar
gab es in der FDP aber bis in die jüngste Vergangenheit einen deutlichen Widerwillen dagegen, sich mit diesen Verstrickungen zu befassen:
Das
Auswärtige Amt beispielsweise war ja
immer wieder lange in der Hand der Liberalen. Schon 1970 hatte der Außenminister
Walter Scheel angekündigt, seine Behörde wolle die Nazi-Vergangenheit
dortiger Diplomaten untersuchen. Dies geschah aber erst 2010 – und auch da
musste sich die Behörde vorwerfen lassen, die Untersuchungen behindert zu
haben.
„Das Auswärtige Amt
war eine verbrecherische Organisation", sagte der Kommissionsleiter, der Marburger
Historiker Eckart Conze. „Es funktionierte als Institution des
nationalsozialistischen Regimes vom ersten Tag an und hat die nationalsozialistische
Gewaltpolitik zu jeder Zeit mitgetragen."
Nach
1945 habe das Amt eine „hohe personelle
Kontinuität mit teils schwer belasteten Diplomaten" aufgewiesen.
Wahrlich,
rechtsradikales Gedankengut war in
Deutschland nie verschwunden, sondern lebt vor allem in bürgerlichen, ja „staatstragenden“
Kreisen weiter fort. Und das kann es, weil man sich über Jahrzehnte weigerte,
die persönlichen Verwicklungen hoher
Politiker und Beamter offenzulegen. Es hat – so der Anschein – kaum einen
interessiert.
Wichtig
scheint es in Erfurt weiterhin nur zu sein, dass der „Kommunist Ramelow“ (so gestern wieder im Fernsehen ein
FDP-Mitglied) verhindert werde.
Falls
man solche Menschen mit Tatsachen noch erreichen kann: Bodo Ramelow ist so wenig Kommunist wie Christian Lindner ein Widerstandskämpfer. Der bisherige
Ministerpräsident Thüringens ist Westdeutscher und wuchs in einem evangelisch
geprägten Elternhaus auf. Die Karriere des gelernten Einzelhandelskaufmanns lief
über die Gewerkschaft HBV (heute Verdi). Der PDS trat er erst 1999 bei. Ihn
daher mit „alten SED-Kadern“ in Verbindung zu bringen, ist abwegig.
Schon
2014 gab es Gerüchte, der Thüringer CDU-Fraktionschef Mike Mohring habe versucht, in Abstimmung mit der AfD die Wahl von
Ramelow zum Ministerpräsidenten zu verhindern. Damals gelang das noch nicht.
Dazu
passt ein Wort der „großen alten Dame“ der Liberalen, Hildegard Hamm-Brücher, die 2002 wegen anti-israelischer Tendenzen
in ihrer Partei aus der FDP austrat:
„Es sind traditionell
männliche Prinzipien, die auf Macht und Vorteil bedacht sind und nicht auf Ausgleich
und Fairness. Das muss ja die Verkümmerung seelischer Kräfte zur Folge haben.
Von »Partnerschaft« wird da allenfalls in Sonntagsreden gesprochen.“
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