„Wir haben genaue Vorstellungen von einer
neuen Art Zeitung, die wir schaffen möchten. Für sie müsste die Wahrheit der
Tatsachen heilig sein, sie müsste sich der strengen Sachlichkeit in der
Berichterstattung befleißigen, sie müsste auch den Andersmeinenden gegenüber
immer Gerechtigkeit walten lassen; und sie müsste sich bemühen, nicht an der
Oberfläche der Dinge stehen zu bleiben, sondern ihre geistigen Hintergründe
aufsuchen. Dies alles also wollen wir redlich, aber wir glauben, zu diesem
neuen Typ von Zeitung müsste auch eine beträchtliche Volkstümlichkeit, ein
Ansprechen breiter Schichten – ohne ihre Umschmeichlung – gehören. Natürlich
denken wir nur an diejenigen, die sich mit uns bemühen wollen, über die Dinge
nachzudenken, statt Schlagworten nachzulaufen. Für die Denkfaulen möchten wir
nicht schreiben.“
(Leitartikel der 1.
Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen“, 1.11.1949)
Vor
drei Tagen sendete das ARD-Politikmagazin „Kontraste“
einen Beitrag: „Saskia Esken in
Kündigungsaffäre verwickelt“. In 7 Minuten 12 Sekunden gibt man sich größte
Mühe, die neue SPD-Vorsitzende zu demontieren.
Bereits
in der Anmoderation stellt man fest:
Saskia Esken „verkaufe” sich gern als das „gute
Gewissen der SPD“, „linker als die
meisten, aufrechter als viele“. Aber wer sich ihr „Vorleben“ ansehe, stoße auf einige, die „ihr das so nicht durchgehen lassen können“. Die hätten eine „andere Saskia Esken kennengelernt“.
Nur,
dass wir das Nachfolgende schon mal richtig
einzuschätzen wissen…
Worum
geht es?
Die
„waschechte Hinterbänklerin“ könne
als einzige Führungsqualität ihre
Funktion als Vizevorsitzende im
Landeselternbeirat Baden-Württembergs vorweisen. Christian Buksch, der Vorsitzende des Gremiums, in das Esken 2011
gewählt wurde und der 2012 aufgrund „heftiger
Auseinandersetzungen mit ihr“ zurücktrat,
hat keine gute Meinung von der neuen SPD-Chefin: Sie sei mit für die Querelen verantwortlich, es habe zu der Zeit
viele Austritte von Mitgliedern
gegeben.
Hauptsächlicher
Zankapfel ist jedoch die damalige Kündigung
der Leiterin der Geschäftsstelle,
Gabi Wengenroth. Man habe sich die Passwörter der Beschäftigten des Büros geben
lassen und ihren Mailaccount angesehen. Auf Grund dessen, „was man da vorfand“, habe der neue Vorstand ihr gekündigt – und Saskia
Esken persönlich habe das Schreiben in den Briefkasten von Wengenroth geworfen.
Die Geschasste musste ihr Büro sofort räumen und den Schlüssel abgeben.
Die
folgende Auseinandersetzung vor dem Arbeitsgericht endete mit einem Vergleich –
die Sekretärin erhielt einen neuen Arbeitsplatz im Stuttgarter
Kultusministerium.
War
das rechtens? „Kontraste“ lässt zwei Arbeitsrechts-Experten
zu Wort kommen, welche dies verneinen. Der Vorstand hätte gar nicht selber
kündigen dürfen, ein Kündigungsgrund sei nicht gegeben gewesen, und die
Durchsuchung des PC der Angestellten zudem rechtswidrig und strafbar gewesen. Arbeitsrechtlich sei „alles falsch
gemacht worden, was man falsch machen kann.“ Zudem habe man „grob und herzlos“ agiert. Schließlich
besorgte man sich noch den O-Ton des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden von
Porsche, Uwe Hück. Das Parteimitglied
schreibt seiner neuen Chefin ins Stammbuch: „Das
passt zu der SPD nicht, und die SPD wird sowas nicht zulassen.“
Die
Nachricht löste in der deutschen Presselandschaft
ungefähr dieselbe Reaktion aus wie
der Abwurf einer Ladung Kalbsschnitzel in einen Tigerkäfig: Begeistert und offenbar
meist frei von eigenen Recherchen
druckte man die Vorwürfe nach. Die Formulierungen fallen teilweise noch saftiger aus: Die Mitarbeiter der
Elternbeirats-Geschäftsstelle seien „überwacht“
worden – schlimmer noch: Die SPD-Chefin persönlich habe „Mitarbeiter ausspioniert“.
Die
politischen Gegner denken bereits laut über ihren Rücktritt nach, so FDP-Mann Wolfgang Kubicki: „Sollte sich dann herausstellen, dass sie rechtswidrig gehandelt hat,
muss sie sich selbst überlegen, ob der Vorsitzendenposten bei einer Regierungspartei
damit kompatibel ist.“
Inzwischen sickert jedoch eine etwas andere Version der damaligen Ereignisse durch, von der bei Weitem
nicht alle Medien berichten:
Tatsächlich war wohl der Landeselternbeirat in Stuttgart ein seit Jahren zerstrittenes
Gremium: Hauptschul-Vertreter kämpften gegen Gymnasiums-Lobbyisten,
CDU-Anhänger gegen Fans der rot-grünen Regierung, wobei Esken sich offenbar kritisch mit der damaligen SPD-Bildungsministerin (!) befasste. Mehrere Vorsitzende traten in wenigen
Jahren zurück, dem jetzigen Kronzeugen Christian
Buksch wird „autokratisches Verhalten“
nachgesagt. Über die konkreten Gründe seines Rücktritt 2012 habe ich nichts
gefunden.
Der neue Vorstand
jedenfalls wurde von den Vorgängern in keiner Weise eingearbeitet, offenbar verschwand man im Zorn. In der
Geschäftsstelle häuften sich die Anfragen,
die auf dem Dienstcomputer der
später Gekündigten aufliefen. Beim Versuch, diese zu beantworten, stieß man auf
illoyales Verhalten: Die Sekretärin hatte offenbar Interna der neuen Leitung an die Zurückgetretenen durchgestochen und mit negativen Kommentaren versehen. Um das
abzustellen, schmiss man sie hinaus.
Das war sicherlich ein formaler Fehler, welcher der Unerfahrenheit der neuen Leute
zuzurechnen sein dürfte: Dienstherr der Sekretärin war nämlich das Kultusministerium. Interessant wäre für
mich, was in den Vergleich beim
Arbeitsgericht stand – aber das berichtet niemand. Warum hat das Gericht nicht festgestellt, die Sekretärin dürfe ihre Stelle behalten? Und wenn ein strafbares Verhalten (Verletzung des
Post- oder Fernmeldegeheimnisses, § 206 StGB) anzunehmen wäre: Wieso hat das
Gericht die Akten damals nicht an die Staatsanwaltschaft
weitergeleitet? Das wären Fragen, die mich als Journalisten interessieren würden. Die „professionellen“ Kollegen
wohl nicht!
Im neuen Vorstand war damals auch Carsten Rees, der nun seit einigen Jahren das Gremium leitet. Seine
Aussagen:
„Als Saskia Esken und ich 2012 als stellvertretende
Vorsitzende anfingen, war das Gremium äußerst zerstritten. Es war geprägt von
einer Vorsitzenden, die den ganzen Beirat über Jahre sehr hierarchisch geführt hatte.
Wir haben es im Team geschafft, den Landeselternbeirat in ein sachorientiertes
Gremium zu verwandeln, in dem die Arbeit Spaß macht.“
„Für ein so
schwieriges Terrain wie die SPD hat Saskia Esken die besten Voraussetzungen.
Sie kann richtig anpacken, wenn es ums Arbeiten geht. Nachtschichten und
Telefonkonferenzen am Wochenende sind auch bei uns im Beirat an der
Tagesordnung. Saskia Esken denkt sehr strukturiert und kann gut kommunizieren.
Das ist ja wichtig, wenn es auf Teamwork ankommt. Wer nur rumschwurbelt, kann
es gleich sein lassen.“
„Saskia Esken hat wie
alle anderen ehrenamtlich gearbeitet: oft viele Stunden in der Woche und das
neben dem regulären Job. (…) Ich finde, die SPD hat mit Saskia Esken echt
Glück. Was den Vorwurf betrifft, sie habe bislang noch kein Parteiamt ausgeübt,
so halte ich ihn für absurd. Viele Parteien haben in ihren Gremien Klüngeleien.
Da ist es doch vielleicht ganz gut, wenn mal jemand an die Spitze kommt, der
nicht Klüngelpolitiker ist.“
Nicht die Sekretärin sei vom Vorstand bespitzelt worden, sondern umgekehrt! Und
übrigens habe Esken die Kündigung zugestellt, weil sie schlicht
am nächsten dran wohnte. Aber solche Tatsachen sind wohl nicht genügend „skandal-sexy“…
Dann werden Hundertschaften von „Journalisten“ von der Kette gelassen, um jeden Tag im Leben eines Missliebigen zu durchforsten – und man darf gewiss sein: Irgendeinen faulen Knochen werden die Terrier des gedruckten Wortes schon ausgraben.
Gut,
die SPD hat nun rechtliche Schritte
gegen das Magazin (ein treffender Name) „Kontraste“
eingeleitet. Wird es etwas nützen? Nur bedingt – der „Skandal“ wird Saskia Esken
wie Hundedreck an den Sohlen kleben. Interviews zum konkreten Fall hat sie
bislang nicht gegeben. Ich würde es ihr auch nicht raten: Unvoreingenommenheit darf sie nicht erwarten. Seit Wochen schreibt
fast die gesamte Presse das neue SPD-Führungsduo in Grund und Boden – um dann zu vermelden: Die Sozialdemokraten haben
in Umfragen nicht zugelegt. Welch
ein Wunder!
Und
ja: Neue politische Führer müssen
unbedingt der alten Nomenklatura
entstammen – sonst fehlt einfach die Erfahrung.
Anschließend kann man dann beklagen, dass nur der Klüngel entscheidet…
Durch
puren Zufall bin ich auf den ersten Leitartikel
der FAZ aus dem Jahr 1949 gestoßen. Er beschreibt eine Medienwelt, die es heute nicht
mehr gibt – und die damals aus den schrecklichen Erfahrungen entstand, was
eine gelenkte Propaganda-Presse
anrichten kann.
Heute
müsste ein solcher Leitartikel
anders lauten:
Für uns ist die Wahrheit
der Tatsachen nur ein Mittel zum Zweck, wo sie nicht passt, wird sie passend
gemacht. Strenge Sachlichkeit in der Berichterstattung bringt in unserer
Empörungs-Gesellschaft keine Quote, Andersmeinende verwirren nur das gemeine
Volk; und wer nicht an der Oberfläche der Dinge stehen bleibt, sondern ihre geistigen
Hintergründe aufsucht, verliert Leser.
Wir
schreiben für die Denkfaulen – für wen denn sonst?
Weitere Quellen:
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