Wenn du merkst, dass
du auf einem toten Schwein reitest, steig ab.“
(Gerhard Riedl: „Der bitterböse Lehrer-Retter“)
Zu
Beginn der Sommerferien (ein gut gewählter Termin für brisante
Bildungsnachrichten) ist es in Bayern wohl amtlich: Die Gymnasien dürfen, so
sie es wollen, ab 2018 wieder zur neunjährigen Form (G 9) zurückkehren – oder bei
hinreichender Schulgröße beide Varianten (also G 8 und G 9) nebeneinander
anbieten.
Dies
ist wohl das vorläufige Ende eines unauffälligen Rückzugs, seitdem man den Fünftklässlern
2004 während des laufenden Schuljahrs mitgeteilt hatte, sie befänden sich
nunmehr im G 8.
Die
Qualität dieses bildungspolitischen Amoklaufs war damals allen Fachleuten (ausgenommen
also Ministerpräsident, Kultusministerin, Kabinett und Abgeordneten der
Regierungspartei) klar. Selbst mit Nachmittagsunterricht sowie der x-ten „Entrümpelung“
der Lehrpläne konnte man den Verlust eines ganzen Schuljahres selbstredend nicht
ausgleichen. Prompt fielen beim ersten G 8-Abitur auch doppelt so viele
Kandidaten durch wie vorher – trotz heftigster Einflussnahme des
Kultusministeriums auf die Benotung.
Nachdem
die beiden damaligen Haupt-Entscheidungsträger in die Europapolitik entsorgt
worden waren, begann die millimeterweise salamitaktische Abkehr der nunmehr
Verantwortlichen mit semantischem Gedudel wie „Pilotprojekt Mittelstufe Plus“ – mit eindeutigem Ergebnis: An den
47 teilnehmenden Gymnasien entschieden sich zwei Drittel der Schüler für das
verkappte G 9.
2011
führte ich noch einen Leistungskurs zum letzten G 9-Abitur und ging dann selber
in den vorzeitigen Ruhestand. In meinem 2012 erschienenen Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“ gab ich
zu dem Thema Folgendes – hier leicht gekürzt – zu Protokoll:
Von der Bildung zur Ausbildung: das G 8
Definition: Das achtjährige Gymnasium ist der Versuch,
den Stein der Weisen durch das Vertrocknen von weißer Salbe herzustellen.
Vorher gefragt hat unser
damaliger Ministerpräsident wohl nicht mal die Chefin des Kultusressorts,
geschweige denn uns Lehrer – stattdessen wurde diese „Bonsai-Schulform“ autokratisch
(sozusagen zwischen zwei „Ähs“) dekretiert. Freilich fehlte die einschlägige
Werbung nicht: Trotz zugegebener Sparzwänge werde das amputierte Gymnasium durch
den Abwurf von einigem toten Wissensballast viel leistungsfähiger, effektiver
und erfolgreicher. Mit dem Rückenwind des Trends zur
Ganztagsschule schürte man die
Erwartung, den somit fehlenden Stoff eines ganzen Jahres dann eben via
Nachmittagsunterricht sowie „Intensivierungsstunden“ (eine Art kostenloser
Nachhilfe) in die Schüler zu stopfen und deren Anwesenheit somit Eltern,
Jugendtrainern und Musikschullehrern bis zum Einbruch der Dämmerung zu
ersparen. Auch das bisherige Kollegstufensystem planierte man reformtauglich
über den Ersatz der ehemaligen Leistungskurse durch zwei „Seminarfächer“, in
denen die früheren Inhalte
weitgehend durch geschmeidige Formen wie Präsentationen, Portfolios, Gruppenreferate,
Wissenschafts-Mimikry und das Üben von Bewerbungsschreiben ersetzt wurden.
Kurz vor dem jeweiligen
Schuljahresbeginn erschienen mit heißer Nadel zusammengeklöppelte neue
Lehrpläne, in denen Wichtiges gestrichen war, um ein Minimum zu retten (und die
teilweise in einer weiteren Kürzungsaktion nochmals „entschärft“ werden
mussten). Doch einen „Niveauverlust“, so das gebetsmühlenartig wiederholte
Mantra, werde es nicht geben… Vielleicht hätte man den Verantwortlichen einmal
erklären sollen, dass es sich bei „Niveau“ nicht um eine Gesichtscreme handelt…
Die wenigsten Insider waren
überrascht, dass natürlich genau dieser Verlust
eingetreten ist: Das (bereits
vorher nicht atemberaubend hohe) Wissenslevel ist deutlich abgesunken – gerade
für mich als Naturwissenschaftler angesichts der rasanten Fortschritte in
diesem Bereich einfach skandalös! Wenn ich einmal vergleiche, was ich im
Studium beispielsweise in Genetik oder Biochemie lernte und wie viel bis heute dazugekommen
ist, müsste man eher über die Verlängerung des Gymnasiums auf zehn Jahre
ernsthaft diskutieren.
Übrigens kenne ich bisher kaum einen Kollegen, welcher
aus „Verantwortung fürs Ganze“ auf die früher verlangten Inhalte völlig
verzichtete – mit der Folge, dass die Schüler in kürzerer Zeit relativ mehr
Stoff „hineingedrückt“ bekommen!
Und die Reaktionen von Beteiligten und Öffentlichkeit?
Pflichtgemäße Proteste von Eltern- und Lehrerverbänden, bald aber schon
abgelöst durch Statements in Richtung „Wir müssen die neue Herausforderung
annehmen“. Am hartnäckigsten blieben noch die betroffenen Familien, in denen
Elfjährige nun zur gleichen Uhrzeit von der Arbeit nach Hause kamen wie ihre
berufstätigen Väter (die allerdings dann nicht noch Hausaufgaben machen mussten…).
Ebenfalls bis heute sauer sind Vereine, Jugendorchester und ähnliche
Einrichtungen, bei denen die Schüler früher ihre nun nicht mehr vorhandene
Freizeit verbrachten.
Ein Volksbegehren scheiterte (im Unterschied zur
anscheinend viel existenzielleren Frage des totalen Rauchverbots) schon in der
Anlaufphase. Offenbar überwog die (nie offen ausgesprochene) Erwartung, ein
äußerst erstrebenswertes Papier, nämlich das Abiturzeugnis, in Zukunft
„billiger“ zu kriegen… Und die Kollegen? Nach etlichem Aufbegehren (und wohl
noch mehr „innerer Emigration“) tun sie das, wofür sie als Teil der Exekutive
bezahlt werden: Sie führen das Vorgeschriebene aus.
Wie ich allerdings
schon 2004 in einer Glosse festgestellt habe, können wir Lehrer uns von einer
Mitschuld an dieser Entwicklung nicht freisprechen: „War uns eigentlich
irgendein Anlass zu nichtig, Unterrichtszeit entfallen zu lassen? Keine
Vertretung in Randstunden und ab der 11. Klasse, flächendeckende
Spekulatiusorgien zu Weihnachten, Eiersuche vor Ostern, unterrichtsfrei wegen
Abistreich! Dazu noch einwöchige Freizeitgestaltung vor Schuljahresende,
welches für den 13. Jahrgang um Monate vorverlegt wurde – eigentlich immer noch
wegen der Einberufungstermine anno 1970 mit eineinhalb Jahren Soldatenzeit (und
21 Monaten Zivildienst) oder eher wegen der Abi-Besäufnistour an den
Ballermann? Musste das nicht die Begehrlichkeit sparwütiger Politiker wecken,
die angesichts der Ebbe in den Kassen händeringend nach Staatsbetrieben
fahndeten, in denen bei relativ viel Gaudi verhältnismäßig wenig herauszukommen
schien, was sich zum Glück nicht mal in Tonnen oder Stückzahlen pro Arbeitstag
festmachen lässt?“
Vollends zum
Treppenwitz wird das Argument, man müsse die „überlangen Ausbildungszeiten“
verringern, jetzt durch den Wegfall des Wehrdienstes. Nun gut, wie schon in
anderen europäischen Ländern mit Bonsai-Gymnasien, werden die Universitäten
diese Lücke ausfüllen müssen, um per „Vorsemester“ die Studienanfänger auf das
einstige Niveau zu hieven. Selbst wenn hierdurch kein verschultes Paukstudium
entstünde und die Qualität der früheren Abschlüsse erhalten bliebe (aus meiner
Sicht Konjunktive), ändert sich dennoch ein zentraler Punkt: Die
Spezialisierung setzt früher ein, die Breite der Allgemeinbildung nimmt ab;
unverzichtbar ist vornehmlich das, was die späteren Arbeitgeber brauchen:
beispielsweise Physiker – ob die nun Dürrenmatts „Physiker“ gelesen haben oder
nicht… Die Ausbildung bewirkt so ein
Aus für die Bildung – und die
stirbt, wie die Freiheit, nicht auf einmal, sondern millimeterweise.
Ich
habe damals erleben dürfen, wie mein einstiger Chef zwar im ersten Affekt bei „Anti-G
8-Demonstrationen“ mitlief, Wochen danach jedoch bei einer Schulfeier bereits
eine Anpassungsrede à la „Wir müssen die
Herausforderung annehmen“ hielt. Den letzten G 9-Abiturienten beschied er,
sie bekämen auf diese Weise „das Stigma
eines Auslaufmodells angehängt“, während er den ersten G 8-Absolventen
attestierte: „Sie waren schneller und
besser“.
Das
Statement der bayerischen Direktorenvereinigung zur jetzigen Wende spricht
Bände: „Was wir befürchtet haben, ist
eingetreten.“ Na gut, sie werden sich alsbald wieder anpassen…
War
die Umsetzung des galoppierenden Wahnsinns an den bayerischen Gymnasien vor
zwölf Jahren unvermeidlich? Ich bin heute noch fest davon überzeugt: Hätten vor
allem die leitenden Herrschaften an den Schulen über Hintern in der Hose
verfügt, wäre das G 8 längst wieder Geschichte – mit ähnlicher Halbwertszeit
wie gewisse Ministerpräsidenten zur damaligen Zeit.
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