So habe ich ein Thema der heurigen bayerischen Reifeprüfung bearbeitet - unter Beachtung der Arbeitszeit von fünf Stunden und ohne Kenntnis des Erwartungshorizonts. Auch eine Mithilfe meiner Ehefrau (Gymnasiallehrerin für Deutsch und Französisch) fand nicht statt!
Aufgabe
V / Variante 1:
Erörtern Sie die
Frage, ob das Lesen im Zeitalter digitaler Medien an Bedeutung verliert! Nutzen
Sie dazu die folgenden Materialien und beziehen Sie eigene Erfahrung und
eigenes Wissen ein!
Gliederung
A. Einleitung
Kurt
Tucholsky auf der Suche nach einem Wort: „Was tun die Birkenblätter?“
B. Hauptteil
B
1 Das Lesen im Informationszeitalter: dessen Stellenwert
nach Umfragen und sein möglicher Bedeutungswandel
B
2
B
2.1 „Generation Whatsapp“: Sprachverarmung und Internetsucht bei Jugendlichen
B
2.2 Das Internet: eine Bilderwelt
B
2.3 Scannen statt Lesen
B
3
B
3.1 Literatur – schon immer ein Refugium für Minderheiten?
B
3.2 Die Links und der Vorteil der Vernetzung
B
3.3 Das Internet als schier unendliche Quelle von Texten
B
4 Das Lesen im digitalen Zeitalter in
gewandelter, aber nicht geringerer Bedeutung
C. Schluss
Bloggen
– zurück zum Lesen?
A
Der
Satiriker Kurt Tucholsky zählt zu den
Autoren, welche ihr geradezu erotisches Verhältnis zur Sprache immer wieder
bekannten. In seinem Artikel „Mir fehlt ein Wort“ beklagt er, nicht ausdrücken
zu können, was die Birkenblätter tun: „zittern“, „flirren“, „rieseln“? Er werde
dahingegangen sein, ohne es gesagt zu haben. Der politische Journalist
verbindet seine Suche mit einem heftigen Angriff gegen jene, die das Ihre
„dahinlabern“ – sie seien verlacht, für und für! Die Sprache sieht er als
Waffe, die man „scharf zu halten“ habe.
Das
war vor zirka neunzig Jahren. Was hätte Tucholsky
wohl heute zu den 140 Zeichen bei Twitter,
den maximal 160 einer SMS oder dem Kürzel für eine Verabredung „CU2“ („see you
too“) geschrieben? Wohl wenig Freundliches!
Werden
wir, wie der Karikaturist Scharwel
andeutet, immer mehr zu den bekannten drei Affen, die zwar noch sehen, hören
und sprechen können, aber nicht mehr lesen wollen, da es ja Hörbücher, Filme
oder Handys gibt? (Mat. 1)
B
1
Gehört
heute der klassische Buchleser zu einer aussterbenden Spezies? Dem
Kulturpessimismus, welcher ja bereits im Aufsatz Tucholskys anklingt, entsprechen die harten Fakten nicht unbedingt.
Nach einer Marktanalyse (Mat. 6) sind über 70 Prozent der Deutschen an Büchern
interessiert (Z. 1), 11,7 Millionen lesen täglich Bücher, mehrmals pro Woche
fast 15 Millionen (Z. 3 und 5) – und dabei hat das klassische Printbuch immer
noch die Nase vorn: Die Zahl der Buchkäufer (aktuell 41,59 Millionen) scheint
gegenüber dem Vorjahr sogar leicht gestiegen zu sein (Z. 16).
In
einer Umfrage assoziiert eine Mehrheit mit dem Lesen auch heute positive
Begriffe wie „Freizeit“, „Entspannung“, „Spaß / Unterhaltung“ sowie Spannung –
an erster Stelle steht, sicher nicht zu Unrecht, das Bedürfnis nach Information
(Mat. 7).
Freilich
ist hier nach den unterschiedlichen Zwecken und Bedeutungen des Lesens zu
fragen – vom Informationsaustausch per Brief oder SMS über Ausbildungssektor
und Beruf bis hin zur Beschäftigung mit trivialer oder gar anspruchsvoller
Literatur ergibt sich da ein weites und inhomogenes Feld. Schaffen digitale
Medien eine Trendwende mit negativen Folgen wie Sprachverarmung, Reduktion auf
Zeichen sowie Kürzel und somit der Unfähigkeit, sich auf größere Zusammenhänge
einzulassen, die Bedeutung eines Textes zu durchdringen, gar einen Roman von
vorne bis hinten zu lesen?
B
2.1
Das
Bild junger Menschen, welche – das Smartphone in der Hand und den Knopf im Ohr
– wirklichkeitsentrückt durch die Straßen laufen, ist geeignet, den größten Kulturoptimisten
zu verunsichern. Der Kabarettist Werner
Schneyder nannte dies einmal „second hand life“. Durch die
Zeichenbegrenzung sozialer Medien und vor allem den Zwang, alles in eine oft
winzige Tastatur zu tippen, entwickelt sich die Begriffssprache als höchste
kommunikative Errungenschaft der Evolution anscheinend zurück zu einer Zeichen-
und Symbolsprache!
Ein
geistreicher Witz reduziert sich auf „lol“ („laughing out loudly“), in der
Steigerung vielleicht noch „rofl“ („rolling on the floor laughing“) – mehr
Differenzierungsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen, Groß- und Kleinschreibung zudem lästig! Weiterhin kann man die Bedeutung banaler Sprüche ja durch „Smileys“
(Gesichtsattrappen, welche schon ein Säugling versteht) erläutern oder Gefühle,
welche früher ellenlange Liebesbriefe umschrieben, mittels „Emoticons“ aus
einem reichlich vorprogrammierten Fundus in seine Textfragmente kopieren.
Die
Fähigkeit, längere Texte sinnerfassend zu lesen, gar eine Botschaft zwischen
den Zeilen zu verstehen, geht so natürlich, gerade bei jungen Menschen, zurück.
B
2.2
„Ein
Bild sagt mehr als tausend Worte“ – diese grundsätzlich sicher richtige Aussage
wurde spätestens seit den 1930-er Jahren durch die Comics pervertiert, indem
eine ausdrucksstarke Sammlung verbaler Grundformen wie „ächz, stöhn“ die
Botschaft der Zeichnungen nur noch lautmäßig verstärkte (siehe den „Erikativ“
der deutschen Micky Maus-Übersetzerin Dr.
Erika Fuchs).
Diesen
Trend hat das Internet noch kräftig verstärkt: In den sozialen Medien werden
vorwiegend Bilder gepostet – der zugehörige Text (wenn überhaupt vorhanden)
stellt bestenfalls eine kurze Komponente dar, welche die optische Aussage
erklärt oder verstärkt. Die Möglichkeit des „Teilens“ bewirkt zudem, dass
eigene geistige Leistungen – auch sprachliche – keine Voraussetzung mehr sind,
um an der inflationären Kurz-Kommunikation teilzunehmen. Und wenn einem gar
nichts mehr einfällt, postet er das zuletzt Gegessene („foodie“) oder das Foto
seiner Hauskatze – in Bloggerkreisen zu Recht als „cat content“ verspottet. Aus
der sprachlichen Verarmung resultiert logischerweise die Trivialisierung von
Inhalten.
Man
kann den Journalisten Markus Günther
durchaus verstehen, wenn er das „Ende der Schriftkultur“ (Mat. 2, Z. 12)
prophezeit, wo doch schon heute Smartphone-Programme Sprache in Schrift
(und umgekehrt) übersetzen und Gebrauchsanleitungen per Video daherkommen (Z.
18-21). Sicherlich sind audiovisuelle Medien in etlichen Bereichen den
schriftlichen überlegen (Z. 37-38). Wenn Günther dagegen von der bisherigen „fast
vollständigen Alphabetisierung der Gesellschaft“ schreibt (Z. 8), sollte man
bedenken, dass sogar in unserem Land die „Dunkelziffer“ der totalen oder
teilweisen Analphabeten bei einigen Millionen liegen dürfte!
B
2.3
Auf
der sehr interessanten Webseite „Affenblog“
(mit vielen guten Ideen, mit Blogs Geld zu verdienen) trifft der Autor Walter Epp eine bemerkenswerte
Feststellung: Im Internet würde meist nicht mehr gelesen, sondern „gescannt“:
Die Interessenten überflögen Texte nur noch anhand von Stichpunkten („bullet
points“) oder Zwischenüberschriften und klickten so einen Artikel nach weniger
als einer Minute wieder weg.
Ähnlich
äußert sich der Bibliotheksdirektor Klaus
Ceynowa (Mat. 5): Die „Dominanz des Textes und mit ihm die traditionelle
Figur des Lesers“ verschwinde, welcher „Zeile für Zeile und Seite für Seite
einem Argumentationsgang oder einer ‚Geschichte‘“ folge. (Z. 8-10).
Sehr
pessimistisch sieht Konrad Paul Liessmann
(Mat. 4) ein Herannahen des Endes der Literatur: Lesen und Schreiben seien mehr
als eine Kulturtechnik, nämlich eine Form der „Weltaneignung und Welterzeugung“
(Z. 6-7). Wer Texte lediglich unter pragmatischen Gesichtspunkten sehe, werde
nur dann noch lesen, wenn es gar nicht anders gehe (Z. 12), und so die
Beschäftigung mit Literatur „als Zumutung empfinden“ (Z. 14).
Womit
wir wieder bei Tucholsky wären: Wen
interessiert dann noch ein Wort dafür, was die Birkenblätter tun?
B
3.1
Man
muss allerdings ehrlicherweise zugeben, dass solche Beschäftigungen noch nie
mehrheitsfähig waren: Literatur, gerade in ihrer künstlerisch hochstehenden und
anspruchsvollen Variante, musste auch früher hart um Leser kämpfen. Schon in
vergangenen Zeiten, teilweise vor der Erfindung des Buchdrucks, arbeiteten Bänkel-
und Moritatensänger nicht eben mit elaborierten Texten, und Groschenhefte,
Illustrierte sowie Herz-Schmerz-Romane fanden ihr Publikum wesentlich leichter.
Gerade
das Internet macht den Zugang zu wertvollem Schrifttum (nebst der
Sekundärliteratur) so einfach wie nie zuvor. Millionen von Texten sind nur wenige Mausklicks entfernt. Freilich muss sich auch diese Sparte um Leserlichkeit
bemühen! Die ketzerische Frage sei erlaubt, ob der Unwillen, sich
beispielsweise auf die Schachtelsätze eines Thomas
Mann einzulassen, wirklich auf die digitale Revolution zurückzuführen ist
oder nicht doch auf gewisse Manierismen von Autoren…
B
3.2
Der
schon erwähnte Klaus Ceynowa (Mat. 5)
kommt unter dem Titel „Der Text ist tot. Es lebe das Wissen!“ zu optimistischen
Aussagen. Er sieht den Leser im Informationszeitalter als „Figur des sich in
vernetzten Wissensräumen agil bewegenden Entdeckers“ (Z. 12-13). Dies kann man
tatsächlich als neue Qualität des Lesens bezeichnen:
Wollte
man früher einen Begriff oder eine Tatsache in einem Text genauer hinterfragen,
war man auf Lexika oder die mühsame Beschaffung von Sekundärliteratur
angewiesen. Heute sind solche Stellen meist „verlinkt“ – es genügt also ein
Mausklick, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. Inklusive Plattformen wie
„Wikipedia“ wird das Internet so tatsächlich zu „einem Netz, das niemals reißt“
(Z. 15).
Die
Möglichkeit, an den Weltschatz an Informationen zu kommen und fast beliebige
Querbezüge zu erforschen, bedeutet einen revolutionären Fortschritt, welcher
dem Lesen eine neue Qualität geben kann!
B
3.3
Das
Internet stellt vor allem quantitativ eine gigantische Zunahme der
Informationen dar. Pro Minute werden nicht nur fast fünfzig Stunden Videos auf „Youtube“ hochgeladen und hunderttausend
Tweets auf „Twitter“ verschickt,
sondern auch mehrere hundert Webseiten neu hochgeladen. Wer Texte – auch solche
jenseits von 160 Zeichen-Botschaften – sucht, wird so fündig wie noch nie zuvor
in der Menschheitsgeschichte. Gutenbergs
Revolution des Buchdrucks, welche ein Lesen auch jenseits von Klostermauern
ermöglichte, wird somit erneut auf eine neue, ungeahnte Ebene katapultiert.
Wer
lesen möchte, kann dies in Hülle und Fülle tun – und dank des weltweiten Netzes fällt es selbst Diktaturen immer schwerer, ihren Bürgern unwillkommene
Informationen vorzuenthalten!
B
4
Die
Ängste, welche eine neue Entwicklung bewirkt, sind nicht neu. Rückblickend
werden sie meist belächelt wie die Furcht vor der „Eisenbahnkrankheit“, welche im
19. Jahrhundert durch die ersten Dampfloks ausgelöst wurde: Die „rasenden
Geschwindigkeiten“ (damals wohl deutlich unter 50 Stundenkilometern) würden Tier
und Mensch gesundheitlich schwer schädigen.
Allein
das Textangebot, welches das Internet liefert, dürfte nicht zu einem Rückgang
der Bedeutung des Lesens führen. Es werden sich allerdings andere Lesemuster
einstellen, welche der stärkeren Vernetzung Rechnung tragen und so sicherlich neue
Chancen bieten. Auch das „Überfliegen“ von Texten wird eher zunehmen, was aber,
je nach konkretem Bezug, nicht nachteilig sein muss und zudem schon beim alten
„Printbuch“ existiert.
Für
jeden Fortschritt zahlt man allerdings einen Preis. Das „lineare Lesen“ wird es
sicherlich schwerer haben als früher. Doch gerade heute ist die Literatur so
breit aufgestellt, dass wohl die Faszination dieser Kunstgattung nicht
untergehen wird.
Nicht
nur Kinder lieben Geschichten.
C
Das
Internet hat ein neues Textmedium hervorgebracht, das immer mehr an Bedeutung
gewinnt: das „Weblog“ oder kurz „Blog“ – in seiner Urform eigentlich ein
elektronisches Tagebuch.
Auf
der schon erwähnten Webseite „Affenblog“
plädiert der Herausgeber engagiert dafür, in den Texten „wertvollen Content“ zu
liefern. Nur Beiträge, welche dem Leser einen Nutzen durch detaillierte
Darlegungen brächten, würden genauer gelesen, ansonsten höchstens „gescannt“,
was dem Blogger materiell keinen Gewinn (etwa durch Werbung) brächte.
Und
was sei die wichtigste Eigenschaft eines Textes, der viel gelesen würde? Er
müsse mindestens tausend Wörter lang sein (was einer Lesezeit von zirka sieben
Minuten entspricht).
Zu
kurze Beiträge würden eher überflogen und dann weggeklickt. Eine in diesem
Zusammenhang doch äußerst tröstliche Erkenntnis!
Als
Blogger kann ich sie nach meiner Erfahrung nur bestätigen.
Auch
das mit den Birkenblättern…
P.S. Dieser Text enthält übrigens 1571 Wörter!
P.S. Dieser Text enthält übrigens 1571 Wörter!
Toller Beitrag! Hilft mir für meine Abiturvorbereitung enorm! Der Schluss mit dem Rückbezug zum Anfang hat mich auch zum schmunzeln gebracht, hoffentlich kriege ich es auch so hin. Danke!
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