„Eine
Unterrichtsstunde dauert 45 Minuten.“
(eine der größten
Illusionen im Bildungssystem)
Derzeit
laufen in meinem Bundesland wieder die berüchtigten zweieinhalb Wochen zwischen
den Zeugniskonferenzen und dem Ferienbeginn. Ich kann mich noch gut daran
erinnern, dass ich diese Phase als die stressigste
des gesamten Schuljahres empfand. Seit meiner Pensionierung wird dieser
Effekt offenbar eher schlimmer: Erste neulich wieder hörte ich die Klage einer
Kollegin, bestenfalls dreißig Prozent der Schüler wären in dieser Zeit noch zu
sinnvoller Arbeit bereit – den Rest müsse man ständig daran hindern, über
Tische und Bänke zu gehen.
Die
schulübliche Vergeudung von Ressourcen
treibt zu Schuljahresende sicherlich einem Maximum zu: Da werden Beamte des
Höheren Dienstes, welche ein abgeschlossenes Hochschulstudium (mit meist sehr
guten Noten) absolviert haben, ja nicht nur auf junge Menschen losgelassen, die
nix (mehr) lernen wollen – nein, sie dürfen auf diversen Spaßveranstaltungen
noch zusätzlich beweisen, wie groß ihre Kompetenzen als Reisebetreuer, Kampfrichter
beim Sportfest, Küchenchef beim Waffelbacken oder sonstiger Schulgaudi-Hanswurst
sind!
Es
gleicht der präökologischen Naivität bei der Verschmutzung der Weltmeere: Diese
seien ja unendlich groß, sodass man ruhig Gifte bis zum Exzess einleiten dürfe.
Da hat man inzwischen dazugelernt. Im Bildungswesen allerdings wird bis heute
die zur Verfügung stehende Masse an
Unterricht als grenzenlos betrachtet – da könne schon mal etwas ausfallen –
sei es nun für Hitzefrei (ein arbeitsrechtliches No Go), Projekt- und Wandertage,
Schulfest oder wie die Alibis auch heißen mögen, welche von der Unfähigkeit
Erwachsener zeugen, die Notwendigkeit von Bildung überzeugend vor
Minderjährigen zu vertreten. Und – werden zumindest Unterrichtsausfälle durch Erkrankung (statistisch bis zu zehn
Prozent) durch Vertretungen aufgefangen – noch dazu durch solche, welche dann
tatsächlich Lernstoff vermitteln und nicht nur eine Beaufsichtigung darstellen?
Wohl eher nicht.
Selbst
wenn Unterrichtsstunden stattfinden, dauern sie kaum einmal wirklich 45 Minuten. Ein pünktlicher Beginn kann
ja höchstens für die erste Stunde oder nach Pausen erwartet werden. Schon am
Morgen jedoch stellen sich Zeitverzögerungen ein, welche vor allem von dem
Verkehrschaos vor dem Bildungsinstitut herrühren, da die heutigen Eltern ja
ihren adipösen Nachwuchs (nachdem sie ihn per Flaschenzug aus dem Bett gehievt
haben) bis direkt vors Schultor karren müssen. (Liebe Direktoren, die ihr doch
sonst so gerne dienstliche Anweisungen gebt: Da könntet ihr einmal echten Mut
beweisen: Fass…)
Zu
den restlichen Lehrterminen müssen sich ja Schüler oder Lehrer erst einmal per
pedes begeben, was schon mal (selbst wenn man nicht bummelt) fünf Minuten
beansprucht. Sollte man seinem Erziehungsauftrag schon nachgekommen sein,
mithin seine Schutzbefohlenen nicht erst von der Notwendigkeit von Bildung
überzeugen müssen, kann man dennoch oft nicht gleich anfangen, falls der
Kollege nebenan nicht ähnlich gepolt ist – sprich, seine Klasse noch
minutenlang die Lautstärke eines startenden Düsenjets simuliert. Na gut, in der
Zeit kann man ja den üblichen Versiffungsgrad
von Klassenzimmern durch diverse Putzaktionen und Materialbeschaffung
einschränken. („Wer holt denn jetzt mal
Kreide?“) Weiterhin darf man die Schlange vor dem Pult abarbeiten und so
erfahren, wer warum welches Heft vergessen bzw. die Hausaufgabe nicht
verstanden hat. Zudem fehlen noch einige Schüler, da die Kollegin Zickendraht eine kurze Besprechung
ihres Projekts „Müll als Kunst“ für unvermeidlich hält. Ist man endlich in die Gänge gekommen, freut man sich – kurz vor
dem Höhepunkt der Stunde – noch auf die übliche Lautsprecherdurchsage, welche zwar nur den Kurs „Dramatisches Gestalten“ betrifft - es
ist aber schön, einmal davon gehört zu haben… (Sollte ich im nächsten Leben
wieder Lehrer werden, würde ich neben dem Rotstift stets eine kleine
Metallzange für die Lautsprecherdrähte mit mir führen – als bildungspolitische
Notwehr!)
Wir
müssen also gar nicht die üblichen Zeitverschwendungsphasen
im Schuljahr betrachten wie die Spekulatiusorgien vor dem Christfest, die
Pappnasentage im Fasching, das Ostereiersuchen oder den
Schuljahresschluss-Wahnsinn: Schon zu den normalen Zeiten schafft es der
durchschnittliche Lehrer nicht, mehr als ein Netto von dreißig Minuten vom Bruttoangebot einer Unterrichts-Dreiviertelstunde
herauszuholen. Schon von daher könnten wir ein Drittel des Bildungsetats der
öffentlichen Haushalte als Spende an Griechenland überweisen in der Hoffnung,
dass man dort mit dem Geld Sinnvolleres anstellt.
Um
die derzeit vom Schuljahresende gepeinigten Kollegen noch mit einer kleinen Alternative zu erfreuen: Wenn es denn
so ist, dass heute viele Schüler ohne Notendruck nicht mehr zu bändigen sind –
warum dann nicht bis zum letzten Schultag unterrichten und prüfen? Ich würde
anschließend gerne noch zwei bis drei Tage opfern, um in aller Ruhe meine Noten
einzutragen, die Zeugnisse zu erstellen und mich in einem erfreulich leeren und
stillen Schulhaus mit den Kollegen zu den betreffenden Sitzungen einzufinden –
so ganz ohne Stress. Die Zeugnisse könnten die Schüler ja dann einige Tage
später (oder zu Schuljahresbeginn) im Sekretariat abholen. Warum sollte das
nicht gehen? Nur, weil wir es noch nie gemacht haben? Und die zu erwartenden
Proteste? Keine Angst, die haben ja das G 8 auch nicht verhindert…
Apropos:
Bei all der Zeitverschwendung hatten wir natürlich schon lange kein
neunjähriges Gymnasium mehr und sind mittlerweile längst im G 7 angekommen. Und wieso beginnen in
meinem Bundesland die Abiturprüfungen eigentlich schon Ende April? Grund für
diese Vorverlegung war ja sintemalen der frühe Einberufungstermin zum
Wehrdienst. Der ist inzwischen längst abgeschafft – wohl im Gegensatz zum
Einfluss der Tourismus-Lobby, damit die Damen und Herren Abiturienten vor dem
Studium noch genügend Zeit haben, sich an Spaniens Stränden noch die Basis für
eine spätere Leberzirrhose zu besorgen. Und ich darf mir inzwischen die Finger
wund telefonieren, wenn ich für einen Auftrag einen guten Handwerker statt
einen mittelmäßigen Akademiker brauche.
Bildung braucht – wie
guter Wein – Zeit.
Derzeit haut man viel zu früh nach der Lese den Stopsel drauf und hofft, das
Gebräu möge noch in der Flasche nachgären. Ersatzweise pappt auf dem Behältnis
dann ein prunkvolles Etikett. Ich halte es da mit dem Kabarettisten Werner Schneyder, der zum einstigen
Glykol-Skandal sagte: „Wer für eine Mark
achtundneunzig ein Spätlese will, der gehört vergiftet.“
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