Dienstag, 4. August 2015

Das Alphatier sind Sie!



Zu Beginn der großen Ferien bekomme ich wieder diverse Jahresberichte der Schulen (als Pensionist auch den meiner früheren) zu Gesicht. In deren vorderem Teil ist oft jeder Klasse eine Doppelseite mit Namensliste plus Foto gewidmet. Häufig ist da auch der Klassenleiter (oder der Kollege, welcher gerade unterrichtete) zu sehen – oder besser gesagt: Ich finde ihn nach längerem Suchen. Erstens hat die Lehrkraft sich in die letzte Reihe verkrümelt, und vor allem ist sie (nicht nur wegen des jugendlichen Alters) kaum von den Schülern unterscheidbar. Warum? Nun, in Körperhaltung und Kleidung weicht sie höchstens nach unten von den Kids ab!

Stellen Sie sich einmal vor, in einer Fernsehsendung würde ein Prominenter angekündigt. Der Moderator gibt eine kurze Einführung – und dann schwenkt die Kamera zum Auftrittsplatz – Licht aus, Spot an, vielleicht gibt es sogar eine Showtreppe, auf welcher sich die Lichtgestalt aufs Niveau der Zuschauer herunterbegeben kann, eine kurze Intro-Musik inklusive. Sicherlich ist der Gast besonders chic gekleidet, wobei es je nach dem angestrebten Image die Bandbreite zwischen edel-abgewetzt und Maßanzug oder –kostüm gibt. Die Körperhaltung der Berühmtheit ist aufrecht, aber relaxed, Gestik und Mimik gestaltet er freundlich-einladend. Sofort nimmt er Blickkontakt mit dem Publikum auf und begrüßt per Handschlag, fallweise sogar Bussi-Bussi-Umarmung, den Showmaster und eventuell weitere Gäste, wonach ihm ein bequemer, exponierter Sitzplatz angeboten wird. Im anschließenden Smalltalk wird deutlich, dass sich der Stargast schon sehr häufig überlegt hat, welche Formulierungen beim Publikum ankommen – und genau die setzt er in deutlicher Ausdrucksweise und fehlerfreier Sprache gut betont um.

Als Kontrast dürfen Sie sich nun einen (Jung)lehrer vorstellen, welcher sich zu Schuljahresbeginn in schlabbriger Cargo-Jeans und ausgebleichtem T-Shirt zu seinem ersten „Auftritt“ vor seiner neuen Klasse begibt. Der Rucksack auf seinen Schultern dürfte, eventuell mit der zusätzlich transportierten schweren Tasche, für die nötige gebeugte Körperhaltung sorgen, und im Klassenzimmer ist für die in Sitzplänen „Pult“ genannte Person sicherlich kein Ehrenplatz reserviert. Mühsam darf man öfters erst die Schülerbänke nach hinten rücken lassen, auf dass hinter dem Lehrertresen ein Minimum an Spielfläche bleibe. Das Ganze komplettiert wird im Idealfall noch mit einem gesenkten Blick des Pädagogen, einer abwehrenden Mimik, Schutzgestik (Arme vor dem Körper) sowie einer nuscheligen, mit vielen „Ähs“ und Übersprungshandlungen versehenen Begrüßung. Die Botschaft einer solchen Performance dürfte nicht auf „A star is born“ hinauslaufen – eher lautet die Unterschrift: „Der Lakai steht bereit“.

Das Schlimmste ist, dass sich ein solcher Eindruck bereits in den ersten 30 Sekunden breitmacht: Nach einer alten Regel im „Showbiz“ hat man nur diese Zeit, das Publikum zu gewinnen oder gar nicht erst zu interessieren. Bedenken Sie auch, dass mindestens zwei Drittel aller Informationen über die optische Schiene laufen! Bevor unser Fernsehstar oder die arme Lehrkraft ihren Mund zum ersten Mal öffnet, ist das meiste bereits klar. Lehrertypisch ist leider die gegenteilige Einstellung: Man glaubt an die „Kraft des Wortes“, was früher oder später zum Gejammer führt: „Ich kann es denen so oft sagen wie ich will, sie halten sich nicht dran.“ Na eben! Wenn beim „Vorbild“ die Akustik so wichtig wäre, hieße es „Vorwort“…

Aus meinem Berufsleben weiß ich, wie schwer es ist, Kollegen von der Wichtigkeit der eigenen Performance zu überzeugen, ihnen klarzumachen, dass sie Unterrichtsinhalte erst dann erfolgreich „über die Rampe“ bringen können, wenn die Rolle des „Stars“ geklärt ist. „Es geht doch nicht um mich“, „Eitelkeit liegt mir nicht“ oder „Ich will mich nicht künstlich von meinen Schülern absetzen“ sind häufige Argumente. Ich stehe hier unbeirrbar zum Gegenteil: Wenn Sie keinen Gefallen an Selbstdarstellung finden, nicht gerne im Mittelpunkt stehen und die Rolle des „Alpha-Tiers“ genießen, sollten Sie sich für den Höheren Bibliotheksdienst bewerben. Das menschliche Sozialverhalten unterscheidet sich wenig von den anderen Primaten – daher ist es mir unverständlich, warum man Lehrerfortbildungen nicht vor dem Paviangehege eines Zoos veranstaltet. Aber nein -  lieber lässt man sich in einem müffelnden Seminarraum zur 183. erfolglosen Methodik-Variante belabern…

In meinem Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“ finden Sie eine „Checkliste fürs Alpha-Tier“, die ich Ihnen hier in leicht geänderter Fassung anbiete:

Ein Alpha-Tier
  • zeigt mentale und körperliche Überlegenheit (aufrechte Haltung, frontale Position, Kopf hoch, Schultern runter, Brust raus, Arme und Hände nicht vor dem Körper)
  • lässt keine Verkrampfungen zu (aggressive oder defensive Spannung), sondern wirkt locker und „cool“
  • verfügt über eine feste, angenehme, nicht angestrengt klingende Stimme, spricht langsam und deutlich, moduliert situationsbezogen den Tonfall, lässt sich nicht unterbrechen, sondern unterbricht höchstens andere
  • setzt die Mimik, vor allem den Blickkontakt, deutlich sowie gezielt ein
  • vermeidet unnötige und widersprüchliche Gestik
  • hat ein herausgehobenes Äußeres (Kleidung, Frisur, Arbeitsutensilien)
  • verrichtet keine niederen Arbeiten (z.B. Tragen schwerer Lasten)
  • achtet auf deutliche Individualdistanz und besetzt ein großes Revier mit klaren Abgrenzungen
  • beobachtet sein Umfeld genau, reagiert ruhig und beherrscht, lässt sich weder provozieren noch mit Terminen und Zeitabläufen unter Druck setzen
  • nimmt niemals Angriffe auf seine Ranghöhe hin, führt die Kämpfe aber stets mit Einzelnen, nicht der ganzen Gruppe
  • setzt auf die rangsteigernde Wirkung von Alter und Erfahrung
  • entscheidet schnell und sicher; relativiert oder korrigiert hinterher offiziell nichts, was als Ascheregen auf seinem Haupt landen könnte
  • erniedrigt seine Position nicht freiwillig durch „Gleichheits-Mimikry“
  • wirkt eigenständig, beruft sich nicht auf Ranghöhere

Nun müssen Sie ja nicht das ganze Anforderungsspektrum auf einmal erfüllen (sonst macht man Sie in Kürze gar noch zum Schulleiter, Ministerialbeamten oder zu noch Schlimmerem…) Achten Sie jede Woche auf einen Aspekt mehr – Sie werden staunen, wie stark sich das Verhalten Ihrer Schüler schon nach kurzer Zeit verändert!

Fazit: Streben Sie im Schuldienst den Status des „Silberrückens“ an!

Anekdote: Einer meiner früheren Chefs, der das Abitur nach dem Erlernen eines technischen Berufs auf dem 2. Bildungsweg abgelegt hatte, gefiel sich in der Rolle des „Praktikers“. Am Hosenbund seiner Jeans hing stets ein voluminöser Schlüsselbund, welchen auch diverse kleine Werkzeuge zierten. In einer Pause gab er sich wieder einmal der Lösung eines elektrischen Problems hin. Zu diesem Zeitpunkt durfte ich Aufsicht halten (wie meist gewandet in einem Barutti-Anzug mit italienischer Seidenkrawatte). Der Vater eines Schülers sprach mich an: „Sind Sie der Herr Direktor?“ Genüsslich wies ich ihm den rechten Weg: „Nein, schauen Sie, der repariert dort hinten gerade eine Steckdose.“

Freitag, 24. Juli 2015

Helikopter-Eltern: Wirbel garantiert



„Unter Helikopter-Eltern (…) versteht man populärsprachlich überfürsorgliche Eltern, die sich (wie ein Beobachtungs-Hubschrauber) ständig in der Nähe ihrer Kinder aufhalten, um diese zu überwachen und zu behüten. Ihr Erziehungsstil ist geprägt von (zum Teil zwanghafter oder paranoider) Überbehütung und exzessiver Einmischung in die Angelegenheiten des Kindes oder des Heranwachsenden.“
(aus Wikipedia)

Lehrer, Sekretärinnen (und ausnahmsweise hier auch die Mitglieder von Schulleitungen) leiden an sehr häufigen Kontakten mit einer Elternspezies, welche mit Argusaugen jegliches schulische Geschehen überwacht und auf allfällige „Ungerechtigkeiten“ scannt. Selbstredend werden im häuslichen Ranking die fachlichen und pädagogischen Leistungen des schulischen Personals täglich upgedatet und speziell so genannte „Horrorgeschichten“ (natürlich aus Schülersicht erzählt) penibel festgehalten.

So ist man bei irgendwelchen schulischen Eingriffen negativer Art (Ermahnungen, Sanktionen, schlechten Noten oder gar dem Nichtbestehen von Prüfungen oder des Vorrückens) bestens präpariert. Obwohl die Wahl der jeweiligen Schule oft genug freiwillig erfolgte, wird nun festgestellt, dass selbige sowieso „einen ganz schlechten Ruf“ habe und ein derartig unpädagogisches Vorgehen ja zu erwarten war. Unverzüglich kommt es zum Missbrauch des Telefons, um auf der Stelle eine Rücknahme der Entscheidung zu fordern – und zwar sofort höheren Orts, also zumindest beim Chef, wenn nicht gleich bei der Schulaufsichtsbehörde. Die Bitte, dies doch zunächst mit der betreffenden Lehrkraft zu besprechen, wird – wie auf Kreuzfahrtschiffen – mit der böswilligen Verweigerung des Upgradings noch übler attackiert – da will man dann schon, wie sonst auch, die Außenbordkabine mit Balkon…

Typisch für derartige Eltern ist, dass man die Schule als Dienstleister versteht, welcher das erstrebte Produkt gefälligst in hoher Qualität zu liefern habe: Gefragt ist da allerdings nicht die Bildung, sondern der entsprechende Abschluss, um Sohnemann oder Tochterfrau den standesgemäßen gesellschaftlichen Aufstieg zu garantieren. Das „Kleingedruckte“ im Vertrag, welches im Gegenzug gewisse Leistungen sowie ein adäquates Verhalten des Schülers verlangt, wird völlig ignoriert. Wenn schon daheim die Kinder nicht spuren, dann wenigstens das Bildungsinstitut!

Inhaltlich (hier ein hartes Wort) ist es übrigens nebensächlich, ob man der Schule einen Verstoß gegen Vorschriften anlastet oder nicht. Im ersten Fall wird gerne der Familienanwalt ins Feld geführt, um entsprechende Rechtsmittel einzulegen und den Widerpart seinerseits zur Abfassung seitenlanger Schriftsätze zu zwingen. Kann man dagegen bei schlechtestem Willen keinen Paragrafen finden, macht man der Bildungseinrichtung genau das zum Vorwurf: Dort werde eben in niedrigster Beamtenmentalität „stur nach Vorschrift“ verfahren – ohne jegliches Feingefühl, keinerlei Eingehen auf die „speziellen Probleme“, welche ja den Sprössling so einzigartig machten.

Nach Möglichkeit sucht man sich dann noch andere Eltern, um gemeinsam via Leserbriefen in der Lokalzeitung oder per Shitstorm im Internet die „skandalösen Zustände“ anzuprangern. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus (Buchautor zu diesem Thema) schätzt den Anteil dieser Population an den Gymnasien auf 10 bis 15 Prozent – als Mehrheit zwar (noch) nicht tauglich, doch für eine Rufschädigung allemal ausreichend.

Interessant und leider sehr zutreffend sind in diesem Zusammenhang die
Erkenntnisse des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. Michael Winterhoff
(„Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, Goldmann Verlag München). Er sieht hier die Beziehungsstörung der „Symbiose“: Den Wegfall der Wahrnehmung des Kindes als eigene Person, indem dessen Psyche mit der des Erwachsenen verschmilzt. Damit wird es sozusagen zum „Körperteil“ der Eltern, welcher gar nichts mehr „falsch“ machen kann. Als Ursache führt Winterhoff an, dass diese sich bereits gegenüber Kleinkindern nicht „abgegrenzt“ (also als eigenständige Persönlichkeit) verhalten, so dass ihr Nachwuchs den Unterschied zwischen Menschen und leblosen
Gegenständen (z.B. einem Stuhl, den man einfach umwerfen kann, ohne dass er sich wehrt) nicht erlernt. Jeder „Angriff“ auf das Kind ist also einer gegen dessen Eltern! Eine Notlösung tut sich daher auf, wenn die Defizite des Schülers nicht mehr wegzudiskutieren sind: Dann sei er halt „krank“ und müsse mit einer Diagnose wie ADHS belegt werden…

Das Tragische an dieser Einstellung ist ja die Vernichtung des Vertrauens, das zu jeder Art von Erziehung und Bildung gehört: Wird einem Kind die Schule als etwas hingestellt, vor dem man sich in Acht nehmen muss, werden Lehrer als Bedrohung seiner „freien Entwicklung“ beschrieben, so entstehen Schüler, denen nichts mehr gefällt, weil sie sich nichts gefallen lassen sollen. Bei den Lehrkräften hingegen wird die berühmte „Schere im Kopf“ etabliert: Ja nichts sagen, was irgendwie zum Vorwurf dienen könnte, alle Handlungen stets auf ihre „Gerichtsfestigkeit“ abklopfen. Erziehung aber erfordert Spontaneität, Emotionen und „Bauchgefühl“ – alles Dinge, welche nicht in Paragrafen zu subsummieren sind.

Was also tun, um sich von Querulanten nicht den letzten Rest an pädagogischem Instinkt abdressieren zu lassen? Als Rat möchte ich eine Regel aus dem amerikanischen Bestseller „House of God“ zitieren, mit der sich angehende Ärzte (sitzen ebenfalls zwischen Baum und Borke) gegenseitig ermutigen: „Der Patient ist derjenige, welcher krank ist.“ Soll heißen: Sie sind die Fachkraft, welche schulische Erziehung und Bildung nach bestem Gewissen (und oft sogar auf der Basis eines Beamteneids) zu organisieren hat. Und die „Helikopter-Eltern“? Trotz allem gilt für sie ein goldener Satz aus der Fliegerei: „Runter kommen sie immer.“ Sollen sie Quatsch beantragen – ein Skandal wäre es erst, wenn sie ihn bekämen!
Und es gibt ja noch Schlimmeres: Eltern, deren Hubschrauber in der häuslichen Garage verstaubt und die ihn erst für den Flug zur Schule anwerfen…

„Guten Tag liebe Eltern,
hinter dieser Tür werden Ihre Fragen nur beantwortet, wenn Sie glaubhaft versichern können, dass
·         Sie Ihrem hier studierenden Kind heute Morgen die Kleidungsstücke zurechtgelegt haben, die es gerade trägt.
·         Sie ihm eine Frühstücksdose mit gesundem Inhalt in den Rucksack gepackt haben.
·         Sie ihm beim Verlassen des Hauses den Reißverschluss an der Jacke zugezogen haben.
·         Sie mindestens noch 30 Sekunden an der Haustür oder am Küchenfenster verfolgt haben, dass es auf dem Weg zur Universität nicht bummelt.“
(Hinweis der Verwaltung der Uni Duisburg-Essen, 2013; zitiert nach Wikipedia)

P.S. Wetten, dass dieser Aushang inzwischen wegen einer Elternbeschwerde abgenommen wurde?

Samstag, 18. Juli 2015

Die Schule – eine Zeitvernichtungsmaschine



„Eine Unterrichtsstunde dauert 45 Minuten.“
(eine der größten Illusionen im Bildungssystem)

Derzeit laufen in meinem Bundesland wieder die berüchtigten zweieinhalb Wochen zwischen den Zeugniskonferenzen und dem Ferienbeginn. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich diese Phase als die stressigste des gesamten Schuljahres empfand. Seit meiner Pensionierung wird dieser Effekt offenbar eher schlimmer: Erste neulich wieder hörte ich die Klage einer Kollegin, bestenfalls dreißig Prozent der Schüler wären in dieser Zeit noch zu sinnvoller Arbeit bereit – den Rest müsse man ständig daran hindern, über Tische und Bänke zu gehen.

Die schulübliche Vergeudung von Ressourcen treibt zu Schuljahresende sicherlich einem Maximum zu: Da werden Beamte des Höheren Dienstes, welche ein abgeschlossenes Hochschulstudium (mit meist sehr guten Noten) absolviert haben, ja nicht nur auf junge Menschen losgelassen, die nix (mehr) lernen wollen – nein, sie dürfen auf diversen Spaßveranstaltungen noch zusätzlich beweisen, wie groß ihre Kompetenzen als Reisebetreuer, Kampfrichter beim Sportfest, Küchenchef beim Waffelbacken oder sonstiger Schulgaudi-Hanswurst sind!

Es gleicht der präökologischen Naivität bei der Verschmutzung der Weltmeere: Diese seien ja unendlich groß, sodass man ruhig Gifte bis zum Exzess einleiten dürfe. Da hat man inzwischen dazugelernt. Im Bildungswesen allerdings wird bis heute die zur Verfügung stehende Masse an Unterricht als grenzenlos betrachtet – da könne schon mal etwas ausfallen – sei es nun für Hitzefrei (ein arbeitsrechtliches No Go), Projekt- und Wandertage, Schulfest oder wie die Alibis auch heißen mögen, welche von der Unfähigkeit Erwachsener zeugen, die Notwendigkeit von Bildung überzeugend vor Minderjährigen zu vertreten. Und – werden zumindest Unterrichtsausfälle durch Erkrankung (statistisch bis zu zehn Prozent) durch Vertretungen aufgefangen – noch dazu durch solche, welche dann tatsächlich Lernstoff vermitteln und nicht nur eine Beaufsichtigung darstellen? Wohl eher nicht.

Selbst wenn Unterrichtsstunden stattfinden, dauern sie kaum einmal wirklich 45 Minuten. Ein pünktlicher Beginn kann ja höchstens für die erste Stunde oder nach Pausen erwartet werden. Schon am Morgen jedoch stellen sich Zeitverzögerungen ein, welche vor allem von dem Verkehrschaos vor dem Bildungsinstitut herrühren, da die heutigen Eltern ja ihren adipösen Nachwuchs (nachdem sie ihn per Flaschenzug aus dem Bett gehievt haben) bis direkt vors Schultor karren müssen. (Liebe Direktoren, die ihr doch sonst so gerne dienstliche Anweisungen gebt: Da könntet ihr einmal echten Mut beweisen: Fass…)

Zu den restlichen Lehrterminen müssen sich ja Schüler oder Lehrer erst einmal per pedes begeben, was schon mal (selbst wenn man nicht bummelt) fünf Minuten beansprucht. Sollte man seinem Erziehungsauftrag schon nachgekommen sein, mithin seine Schutzbefohlenen nicht erst von der Notwendigkeit von Bildung überzeugen müssen, kann man dennoch oft nicht gleich anfangen, falls der Kollege nebenan nicht ähnlich gepolt ist – sprich, seine Klasse noch minutenlang die Lautstärke eines startenden Düsenjets simuliert. Na gut, in der Zeit kann man ja den üblichen Versiffungsgrad von Klassenzimmern durch diverse Putzaktionen und Materialbeschaffung einschränken. („Wer holt denn jetzt mal Kreide?“) Weiterhin darf man die Schlange vor dem Pult abarbeiten und so erfahren, wer warum welches Heft vergessen bzw. die Hausaufgabe nicht verstanden hat. Zudem fehlen noch einige Schüler, da die Kollegin Zickendraht eine kurze Besprechung ihres Projekts „Müll als Kunst“ für unvermeidlich hält. Ist man endlich in die Gänge gekommen, freut man sich – kurz vor dem Höhepunkt der Stunde – noch auf die übliche Lautsprecherdurchsage, welche zwar nur den Kurs „Dramatisches Gestalten“ betrifft - es ist aber schön, einmal davon gehört zu haben… (Sollte ich im nächsten Leben wieder Lehrer werden, würde ich neben dem Rotstift stets eine kleine Metallzange für die Lautsprecherdrähte mit mir führen – als bildungspolitische Notwehr!)

Wir müssen also gar nicht die üblichen Zeitverschwendungsphasen im Schuljahr betrachten wie die Spekulatiusorgien vor dem Christfest, die Pappnasentage im Fasching, das Ostereiersuchen oder den Schuljahresschluss-Wahnsinn: Schon zu den normalen Zeiten schafft es der durchschnittliche Lehrer nicht, mehr als ein Netto von dreißig Minuten vom Bruttoangebot einer Unterrichts-Dreiviertelstunde herauszuholen. Schon von daher könnten wir ein Drittel des Bildungsetats der öffentlichen Haushalte als Spende an Griechenland überweisen in der Hoffnung, dass man dort mit dem Geld Sinnvolleres anstellt.

Um die derzeit vom Schuljahresende gepeinigten Kollegen noch mit einer kleinen Alternative zu erfreuen: Wenn es denn so ist, dass heute viele Schüler ohne Notendruck nicht mehr zu bändigen sind – warum dann nicht bis zum letzten Schultag unterrichten und prüfen? Ich würde anschließend gerne noch zwei bis drei Tage opfern, um in aller Ruhe meine Noten einzutragen, die Zeugnisse zu erstellen und mich in einem erfreulich leeren und stillen Schulhaus mit den Kollegen zu den betreffenden Sitzungen einzufinden – so ganz ohne Stress. Die Zeugnisse könnten die Schüler ja dann einige Tage später (oder zu Schuljahresbeginn) im Sekretariat abholen. Warum sollte das nicht gehen? Nur, weil wir es noch nie gemacht haben? Und die zu erwartenden Proteste? Keine Angst, die haben ja das G 8 auch nicht verhindert…

Apropos: Bei all der Zeitverschwendung hatten wir natürlich schon lange kein neunjähriges Gymnasium mehr und sind mittlerweile längst im G 7 angekommen. Und wieso beginnen in meinem Bundesland die Abiturprüfungen eigentlich schon Ende April? Grund für diese Vorverlegung war ja sintemalen der frühe Einberufungstermin zum Wehrdienst. Der ist inzwischen längst abgeschafft – wohl im Gegensatz zum Einfluss der Tourismus-Lobby, damit die Damen und Herren Abiturienten vor dem Studium noch genügend Zeit haben, sich an Spaniens Stränden noch die Basis für eine spätere Leberzirrhose zu besorgen. Und ich darf mir inzwischen die Finger wund telefonieren, wenn ich für einen Auftrag einen guten Handwerker statt einen mittelmäßigen Akademiker brauche.

Bildung braucht – wie guter Wein – Zeit. Derzeit haut man viel zu früh nach der Lese den Stopsel drauf und hofft, das Gebräu möge noch in der Flasche nachgären. Ersatzweise pappt auf dem Behältnis dann ein prunkvolles Etikett. Ich halte es da mit dem Kabarettisten Werner Schneyder, der zum einstigen Glykol-Skandal sagte: „Wer für eine Mark achtundneunzig ein Spätlese will, der gehört vergiftet.“

P.S. Ich habe natürlich nicht die geringste Hoffnung, dass irgendwelche Zentralfiguren unseres Bildungssystems meinen Ideen Beachtung schenken. Wie man aber weiß, stirbt die Hoffnung ja zuletzt. Davor allerdings wird es die Schule erwischen.