Donnerstag, 21. Mai 2020

Deutsch-Abitur reloaded II

Vor vier Jahren beschloss ich aus einer Laune heraus, nochmal mein Deutsch-Abitur abzulegen und unter Original-Bedingungen ein Thema der bayerischen Reifeprüfung zu bearbeiten: in nicht mehr als fünf Stunden und natürlich ohne unerlaubte Hilfsmittel:

Was ich nie vermutet hätte: Der Text ist mit fast 2000 Zugriffen bis heute der mit Abstand meistgelesene dieses Blogs!
Wie lustig: Da schreibt man ketzerische Texte zur Bildung, und was Schüler und Kollegen interessiert, ist ein Musteraufsätzchen!

Aber gut – meine Seite hat sich ja der pädagogischen Lebenshilfe verschrieben. Und im Germanistik-Studium lernt man bekanntlich eine Menge Sprachwissenschaft, nicht jedoch, selber einen guten Text hinzubekommen…

Aber bevor ich nun wieder in Satire verfalle: Vorletztes Jahr durften die Prüflinge meines Bundeslandes ja etwas zum Thema verfassen. Ich habe es daher auch einmal probiert:

Deutsch Bayern – Abiturprüfung 2018
Aufgabe 5: Materialgestütztes Verfassen eines argumentierenden Textes

Variante 1: Erörtern Sie Möglichkeiten und Grenzen der Satire! Beziehen Sie sich dabei auf Formen der Satire in Wort und Bild! Nutzen Sie dazu die folgenden Materialien 1-9 sowie eigenes Wissen und eigene Erfahrungen!

Gliederung

A. Einleitung
Satire: Wie sich die Probleme wandeln

B. Hauptteil
B 1. Möglichkeiten der Satire
   1.1 Satire – kaum zu fassen
   1.2 Der Vorzug des Unernstes
   1.3 Satire: nicht zweckfrei
   1.4 Idealismus als Waffe

B 2. Grenzen der Satire
   2.1 Was ihr verboten ist
   2.2 Lächeln oder Schärfe?
   2.3 Gegen den Mainstream

B 3. Satire – eine Gratwanderung

C. Schluss
Das Beispiel Helmut Palmer

A.   Satire: Wie sich die Probleme wandeln

Im 19. Jahrhundert war die Welt noch übersichtlich: Satire galt hierzulande als unbotmäßiger Angriff auf die Obrigkeit, Schriftsteller wie Heinrich Heine wurden verfolgt und mussten ins Exil flüchten. Das Verbot solcher Artikel oder Karikaturen war normal, wie der Autor es in einem Text von 1827 andeutet, in denen nur die Begriffe „Die deutschen Censoren“ und „Dummköpfe“ nicht gelöscht sind (Mat. 8). Auch im wilhelminischen Kaiserreich konnte man für Unbotmäßiges noch ins Gefängnis kommen, und nach einer kurzen Blüte dieser Kunstform in der Weimarer Republik mit Autoren wie Kästner und Tucholsky war 1933 Schluss: Berufsverbote, Haft oder sogar KZ drohten denen, welche auf die Freiheit des Wortes bestanden.

Erst unter dem Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit des Grundgesetzes und einer sehr liberalen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes konnte sich die Satire im Nachkriegsdeutschland als „erlaubte“ Kunstform durchsetzen. Beliebt ist sie jedoch bis heute eher bei denen, deren jeweilige Meinung sie vertritt. Vom Rest wird ihr häufig die Wesensart bestritten: „Das ist doch keine Satire!“ Shitstorms gegen Kabarettisten wie Dieter Nuhr oder gar der Mordanschlag auf die französische Zeitschrift „Charlie Hebdo“ beweisen: Es gibt auch heute noch „Unsagbares“!

Blogger wie ich machen diese Erfahrung beinahe tagtäglich, selbst wenn ihre Satiren nur einen Gesellschaftstanz wie den argentinischen Tango berühren. Mit heftigsten Anwürfen wird man selten in der Sache, meist dagegen als Person angegriffen.   

Legendär ist das Wort von Kurt Tucholsky, wonach die Satire „alles darf“ (Mat. 5). Die Frage ist nicht nur, ob er damit recht hat – sondern vor allem: Was sie überhaupt erreichen kann.

B 1.1 Satire – kaum zu fassen

Der Vorteil dieser Kunst ist vor allem, dass sie schwer zu fassen ist. Entzieht sie sich doch – typisch Satire – einer genaueren Beschreibung oder gar Eingrenzung: „Eine Definition für ‚Satire‘ existiert nicht“ schreibt der Jurist und Autor Jan Hedde im SPIEGEL. Es gebe „keinen verbindlichen Katalog von Eigenschaften“, den sie aufzuweisen habe. (Mat. 4).

Entsprechend benötigt Gero von Wilpert in seinem „Sachwörterbuch der Literatur“ elf Adjektive zu ihrer Charakterisierung: „sarkastisch, bissig, zornig, ernst, pathetisch, ironisch, komisch, witzig, humoristisch, heiter, liebenswürdig“. Immerhin ihr Ziel scheint fester umrissen: „durch Aufdeckung der Schäden eine Besserung zu bewirken“. (Mat. 3).

Somit ist es sicherlich eines der dümmsten Argumente gegen eine Satire, ihr zu attestieren, keine zu sein. Diesen Kampf kann sie nur gewinnen.

B 1.2 Der Vorzug des Unernstes

Wie Jan Hedde im SPIEGEL-Artikel schreibt, schafft diese Kunstform eine „Umgebung des Unernsten“, in der Aussagen möglich seien, die im ernsten Rahmen Widerspruch oder gar Gegenmaßnahmen provozieren würden. In ihrer Welt dürfe man nicht auf eine Ordnung hoffen, die einem beistehe. (Mat. 4).

Überspitzung, Pointe und Witz sind sicherlich die erfolgreichsten Waffen der Satire. Wer ausgelacht wird, kann sich schwerlich ernsthaft verteidigen. Sie schafft stets eine Gegenwelt zu herrschenden, als ungerecht empfundenen Verhältnissen, in der man fabulieren und träumen darf. Einem „Faktencheck“ braucht sie sich nicht zu stellen. Gegen den häufigen Vorwurf, „alles ins Lächerliche zu ziehen“, muss sie sich nicht verteidigen – im Gegenteil: Ohne diese Eigenschaft würde sie nicht wirken.

B 1.3 Satire: nicht zweckfrei

Die Satire ist jedoch keine reine „Spaßmacher-Kunst“: „Der Witz ist für Satire das Mittel, für Comedy der Zweck. Satire ist sich selbst nie genug. Satire ist immer Satire auf etwas“, schreibt Jan Hedde (Mat. 4).

Dies ist sicherlich ihre stärkste Option. Während der Komiker die Verhältnisse erträglicher macht, indem er Späße treibt, will die Satire sie ändern. So wird sie durchaus zur ernsten Gefahr der Herrschenden. Reglements, über die gelacht wird, geraten in Gefahr, übertreten zu werden – ja schlimmer noch: Die Frage aufzuwerfen, ob die Regierenden überhaupt noch die Richtigen seien.

In den seltensten Fällen kann Satire allein zu politischen Veränderungen führen, vermag jedoch oft ein Klima zu schaffen, in dem Probleme überhaupt erst bewusst werden, man sich erlaubt, über Unbotmäßiges nachzudenken.

B. 1.4 Idealismus als Waffe

Glaubwürdig wird diese Kunst vor allem durch ihren meist moralisch überzeugenden Ansatz: „Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: Er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an“, schreibt Kurt Tucholsky. (Mat.5) Hehre, uneigennützige Ziele wirken auf viele gewinnender als Selbstdarstellung und Machtansprüche.

Sympathie erwirbt sich die Satire auch dadurch, dass sie stets aus der Position des Schwächeren agiert, sozusagen mit der Schleuder Davids den überlegenen Goliath attackiert. Auf Schwächere einzuhauen ist daher keine Satire, sondern Zynismus – eine ihrer wenigen Grenzen.

B 2.1 Was ihr verboten ist

„Darf“ Satire wirklich alles? Natürlich nicht, sagen Juristen wie der bekannte Medienanwalt Christian Schertz: „Ein Blick in die Rechtsprechung ergibt, dass die klare Antwort ‚Nein“ lauten muss.“ (Mat. 6). Die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit konkurrieren selbstverständlich mit der verfassungsmäßig ebenso geschützten Menschenwürde. Das Verbot einer staatlichen Vorzensur bedeutet also nicht, dass „Schmähkritik“ nicht sanktioniert werden kann. Entscheidend ist stets die Intention: Geht es vorwiegend um die Sache oder darum, eine konkrete Person oder Menschengruppe herabzusetzen? Beleidigung oder gar Volksverhetzung bleiben daher weiterhin verboten.

Gerade bei „identifizierender Berichterstattung“, so der Deutsche Presserat, müsse stets zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsschutz derer abgewogen werden, die man persönlich attackiert. (Mat. 7)

Allerdings steht unsere Rechtsprechung im Zweifel stets auf der Seite der Meinungsfreiheit – erstaunlich liberale Grundsatzentscheidungen beweisen dies. So entschied das Bundesverfassungsgericht, das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ dürfe durchaus legal verwendet werden.

B 2.2 Lächeln oder Schärfe?

Eine andere Frage ist, wie sehr man das Publikum durch überzogene Schärfe „vergrätzt“. Friedrich Schiller unterschied bereits „lachende und strafende Satire“. Die Erstere meint sicherlich auch Georg Christoph Lichtenberg: „Die feinste Satire ist unstreitig die, deren Spott mit so weniger Bosheit und so vieler Überzeugung verbunden ist, dass er selbst diejenigen zum Lächeln nötigt, die er trifft“. Jean Paul dagegen fordert, „die Toren, die man nicht bessern kann, wenigstens zu bestrafen.“ (Mat. 2)

Gerade Karikaturen sind ein wirksames Mittel der Satire, da Bilder mehr sagen als viele Worte. So stellt Thomas Wizany eine satirische Vollstreckerin dar, die auf den Delinquenten namens „guter Geschmack“ anlegt: „Darf ich?“, fragt sie. „Müssen Sie?“, antwortet der. (Mat. 1) Eine wirksame Umschreibung des Problems!

Sicherlich gibt es auch ungeschriebene Gesetze des guten Benehmens, Äußerungen, welche als „unanständig“ empfunden werden. Diese Abwägung ist ein satirisches Dauerthema: Formuliert man zu scharf und humorlos, verschreckt man die Leser. Setzt man zu sehr auf Witz und Unterhaltung, gerät das angesprochene Problem in den Hintergrund.

Nur: Der häufig gegen diese Kunstform verwendete Satz, einem sei „das Lachen vergangen“, senkt nicht die Wahrscheinlichkeit, es könnte sich um Satire handeln. Im Gegenteil!

B. 2.3 Gegen den Mainstream

Die entscheidende Grenze der Satire ist jedoch, dass sie häufig gegen den „Mainstream“ anschreibt, also Ansichten und Verhältnisse, die von einem Großteil als akzeptabel, ja sogar attraktiv empfunden werden. Hier ein Nachdenken oder sogar einen Umschwung zu bewirken ist ein schwieriges Geschäft:

„Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“, fragt der Satiriker Lichtenberg (Mat. 9).

Daher arten Satiren nicht selten zu Publikumsbeschimpfungen aus – wie bei Kurt Tucholsky, der die Masse als dumme „Griesbreifresser“ tituliert, die es dann auch nicht besser verdienten.

Zweifellos ist das Anrennen der Satiriker gegen Vorurteile und verholzte Einstellungen mühsam und nicht immer erfolgversprechend.

B. 3 Satire – eine Gratwanderung

So wohnt der Satiriker oft zwischen Baum und Borke: Er schreibt gegen etwas an, was herrschende Vorstellung ist – entweder erzwungen oder sogar plebiszitär gerechtfertigt. Ist er zu scharf, liefert er denen Munition, welche sein Tun als „respektlos“ bis „destruktiv“ denunzieren. Oder seine Texte gar nicht erst weiterlesen, da man sie nicht lustig genug findet. Ihn im Extremfall sogar vor Gericht zerren oder gleich ohne Verhandlung einsperren wie in vielen Ländern dieser Welt.

Ist er hingegen zu unterhaltend, verlagert er die Aktivität vom Kopf auf die Schenkel, welche dann ersatzweise beklopft werden. Die Missstände, welche er beheben will, ändert er so nicht.     

Um auf Tucholsky zurückzukommen: Satire kann weniger, als sie darf.

C.   Das Beispiel Helmut Palmer

Die ganze Klaviatur ausgereizt hat eine Person, deren Biografie mich sehr beeindruckt hat: Der schwäbische Obsthändler und Baumschnittexperte Helmut Palmer (Vater des heutigen grünen Oberbürgermeisters von Tübingen, Boris Palmer).

Mit einem unglaublichen rhetorischen Talent hat sich der „Remstal-Rebell“ immer wieder in die Politik eingemischt, propagierte ökologische Ideen schon in den 1950-er Jahren. Seine Reden und Zeitungsanzeigen waren voller satirischer Großangriffe und auch Beleidigungen seiner Gegner, weswegen er oft mit der Justiz in Konflikt kam.

Bei etwa 300 Bürgermeister-, Landtags- und Bundestagswahlen kandidierte er, konnte jedoch zwar Achtungserfolge, aber nie ein Mandat erringen. Erfolglos? Die Historiker sind sich einig: Er hat bei vielen Menschen die Bereitschaft gefördert, sich gegen zu viel staatliche Einmischung und einen trägen, autokratischen Beamtenapparat zu wehren.

Das Einzige, was er konkret erreichte: Die offenen Enden der Straßen-Leitplanken, die oft zu schlimmen Unfällen führten, werden seither in Baden-Württemberg im Boden versenkt – nachdem er öfters und unerlaubt selbst zur Tat geschritten war.
Und seine zunächst verteufelte Methode zum Schnitt von Apfelbäumen ist nun anerkannt.

Kein Zweifel: Satiriker müssen genügsam sein.

P.S. Der reine Text (ohne Gliederung) hat 1464 Wörter.

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