Sonntag, 15. Dezember 2019

Von den Hetzjagd-Medien


Wir haben genaue Vorstellungen von einer neuen Art Zeitung, die wir schaffen möchten. Für sie müsste die Wahrheit der Tatsachen heilig sein, sie müsste sich der strengen Sachlichkeit in der Berichterstattung befleißigen, sie müsste auch den Andersmeinenden gegenüber immer Gerechtigkeit walten lassen; und sie müsste sich bemühen, nicht an der Oberfläche der Dinge stehen zu bleiben, sondern ihre geistigen Hintergründe aufsuchen. Dies alles also wollen wir redlich, aber wir glauben, zu diesem neuen Typ von Zeitung müsste auch eine beträchtliche Volkstümlichkeit, ein Ansprechen breiter Schichten – ohne ihre Umschmeichlung – gehören. Natürlich denken wir nur an diejenigen, die sich mit uns bemühen wollen, über die Dinge nachzudenken, statt Schlagworten nachzulaufen. Für die Denkfaulen möchten wir nicht schreiben.“
(Leitartikel der 1. Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen“, 1.11.1949)

Vor drei Tagen sendete das ARD-Politikmagazin „Kontraste“ einen Beitrag: „Saskia Esken in Kündigungsaffäre verwickelt“. In 7 Minuten 12 Sekunden gibt man sich größte Mühe, die neue SPD-Vorsitzende zu demontieren.      

Bereits in der Anmoderation stellt man fest: Saskia Esken „verkaufe” sich gern als das „gute Gewissen der SPD“, „linker als die meisten, aufrechter als viele“. Aber wer sich ihr „Vorleben“ ansehe, stoße auf einige, die „ihr das so nicht durchgehen lassen können“. Die hätten eine „andere Saskia Esken kennengelernt“.

Nur, dass wir das Nachfolgende schon mal richtig einzuschätzen wissen…

Worum geht es?

Die „waschechte Hinterbänklerin“ könne als einzige Führungsqualität ihre Funktion als Vizevorsitzende im Landeselternbeirat Baden-Württembergs vorweisen. Christian Buksch, der Vorsitzende des Gremiums, in das Esken 2011 gewählt wurde und der 2012 aufgrund „heftiger Auseinandersetzungen mit ihr“ zurücktrat, hat keine gute Meinung von der neuen SPD-Chefin: Sie sei mit für die Querelen verantwortlich, es habe zu der Zeit viele Austritte von Mitgliedern gegeben.

Hauptsächlicher Zankapfel ist jedoch die damalige Kündigung der Leiterin der Geschäftsstelle, Gabi Wengenroth. Man habe sich die Passwörter der Beschäftigten des Büros geben lassen und ihren Mailaccount angesehen. Auf Grund dessen, „was man da vorfand“, habe der neue Vorstand ihr gekündigt – und Saskia Esken persönlich habe das Schreiben in den Briefkasten von Wengenroth geworfen. Die Geschasste musste ihr Büro sofort räumen und den Schlüssel abgeben.

Die folgende Auseinandersetzung vor dem Arbeitsgericht endete mit einem Vergleich – die Sekretärin erhielt einen neuen Arbeitsplatz im Stuttgarter Kultusministerium.

War das rechtens? „Kontraste“ lässt zwei Arbeitsrechts-Experten zu Wort kommen, welche dies verneinen. Der Vorstand hätte gar nicht selber kündigen dürfen, ein Kündigungsgrund sei nicht gegeben gewesen, und die Durchsuchung des PC der Angestellten zudem rechtswidrig und strafbar gewesen. Arbeitsrechtlich sei „alles falsch gemacht worden, was man falsch machen kann.“ Zudem habe man „grob und herzlos“ agiert. Schließlich besorgte man sich noch den O-Ton des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden von Porsche, Uwe Hück. Das Parteimitglied schreibt seiner neuen Chefin ins Stammbuch: „Das passt zu der SPD nicht, und die SPD wird sowas nicht zulassen.“

Die Nachricht löste in der deutschen Presselandschaft ungefähr dieselbe Reaktion aus wie der Abwurf einer Ladung Kalbsschnitzel in einen Tigerkäfig: Begeistert und offenbar meist frei von eigenen Recherchen druckte man die Vorwürfe nach. Die Formulierungen fallen teilweise noch saftiger aus: Die Mitarbeiter der Elternbeirats-Geschäftsstelle seien „überwacht“ worden – schlimmer noch: Die SPD-Chefin persönlich habe „Mitarbeiter ausspioniert“.

Die politischen Gegner denken bereits laut über ihren Rücktritt nach, so FDP-Mann Wolfgang Kubicki: „Sollte sich dann herausstellen, dass sie rechtswidrig gehandelt hat, muss sie sich selbst überlegen, ob der Vorsitzendenposten bei einer Regierungspartei damit kompatibel ist.“

Inzwischen sickert jedoch eine etwas andere Version der damaligen Ereignisse durch, von der bei Weitem nicht alle Medien berichten:

Tatsächlich war wohl der Landeselternbeirat in Stuttgart ein seit Jahren zerstrittenes Gremium: Hauptschul-Vertreter kämpften gegen Gymnasiums-Lobbyisten, CDU-Anhänger gegen Fans der rot-grünen Regierung, wobei Esken sich offenbar kritisch mit der damaligen SPD-Bildungsministerin (!) befasste. Mehrere Vorsitzende traten in wenigen Jahren zurück, dem jetzigen Kronzeugen Christian Buksch wird „autokratisches Verhalten“ nachgesagt. Über die konkreten Gründe seines Rücktritt 2012 habe ich nichts gefunden.

Der neue Vorstand jedenfalls wurde von den Vorgängern in keiner Weise eingearbeitet, offenbar verschwand man im Zorn. In der Geschäftsstelle häuften sich die Anfragen, die auf dem Dienstcomputer der später Gekündigten aufliefen. Beim Versuch, diese zu beantworten, stieß man auf illoyales Verhalten: Die Sekretärin hatte offenbar Interna der neuen Leitung an die Zurückgetretenen durchgestochen und mit negativen Kommentaren versehen. Um das abzustellen, schmiss man sie hinaus.

Das war sicherlich ein formaler Fehler, welcher der Unerfahrenheit der neuen Leute zuzurechnen sein dürfte: Dienstherr der Sekretärin war nämlich das Kultusministerium. Interessant wäre für mich, was in den Vergleich beim Arbeitsgericht stand – aber das berichtet niemand. Warum hat das Gericht nicht festgestellt, die Sekretärin dürfe ihre Stelle behalten? Und wenn ein strafbares Verhalten (Verletzung des Post- oder Fernmeldegeheimnisses, § 206 StGB) anzunehmen wäre: Wieso hat das Gericht die Akten damals nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet? Das wären Fragen, die mich als Journalisten interessieren würden. Die „professionellen“ Kollegen wohl nicht!

Im neuen Vorstand war damals auch Carsten Rees, der nun seit einigen Jahren das Gremium leitet. Seine Aussagen:

Als Saskia Esken und ich 2012 als stellvertretende Vorsitzende anfingen, war das Gremium äußerst zerstritten. Es war geprägt von einer Vorsitzenden, die den ganzen Beirat über Jahre sehr hierarchisch geführt hatte. Wir haben es im Team geschafft, den Landeselternbeirat in ein sachorientiertes Gremium zu verwandeln, in dem die Arbeit Spaß macht.“

„Für ein so schwieriges Terrain wie die SPD hat Saskia Esken die besten Voraussetzungen. Sie kann richtig anpacken, wenn es ums Arbeiten geht. Nachtschichten und Telefonkonferenzen am Wochenende sind auch bei uns im Beirat an der Tagesordnung. Saskia Esken denkt sehr strukturiert und kann gut kommunizieren. Das ist ja wichtig, wenn es auf Teamwork ankommt. Wer nur rumschwurbelt, kann es gleich sein lassen.“  

„Saskia Esken hat wie alle anderen ehrenamtlich gearbeitet: oft viele Stunden in der Woche und das neben dem regulären Job. (…) Ich finde, die SPD hat mit Saskia Esken echt Glück. Was den Vorwurf betrifft, sie habe bislang noch kein Parteiamt ausgeübt, so halte ich ihn für absurd. Viele Parteien haben in ihren Gremien Klüngeleien. Da ist es doch vielleicht ganz gut, wenn mal jemand an die Spitze kommt, der nicht Klüngelpolitiker ist.“

Nicht die Sekretärin sei vom Vorstand bespitzelt worden, sondern umgekehrt! Und übrigens habe Esken die Kündigung zugestellt, weil sie schlicht am nächsten dran wohnte. Aber solche Tatsachen sind wohl nicht genügend „skandal-sexy“

Es stimmt wohl, was der Kabarettist Georg Schramm über Friede Springer und ihre „Lohnschreiber“ sagte: Eine Handbewegung von ihr genüge, Politiker vom Thron zu holen.
Dann werden Hundertschaften von „Journalisten“ von der Kette gelassen, um jeden Tag im Leben eines Missliebigen zu durchforsten – und man darf gewiss sein: Irgendeinen faulen Knochen werden die Terrier des gedruckten Wortes schon ausgraben.



Gut, die SPD hat nun rechtliche Schritte gegen das Magazin (ein treffender Name) „Kontraste“ eingeleitet. Wird es etwas nützen? Nur bedingt – der „Skandal“ wird Saskia Esken wie Hundedreck an den Sohlen kleben. Interviews zum konkreten Fall hat sie bislang nicht gegeben. Ich würde es ihr auch nicht raten: Unvoreingenommenheit darf sie nicht erwarten. Seit Wochen schreibt fast die gesamte Presse das neue SPD-Führungsduo in Grund und Boden – um dann zu vermelden: Die Sozialdemokraten haben in Umfragen nicht zugelegt. Welch ein Wunder!

Und ja: Neue politische Führer müssen unbedingt der alten Nomenklatura entstammen – sonst fehlt einfach die Erfahrung. Anschließend kann man dann beklagen, dass nur der Klüngel entscheidet…

Durch puren Zufall bin ich auf den ersten Leitartikel der FAZ aus dem Jahr 1949 gestoßen. Er beschreibt eine Medienwelt, die es heute nicht mehr gibt – und die damals aus den schrecklichen Erfahrungen entstand, was eine gelenkte Propaganda-Presse anrichten kann.

Heute müsste ein solcher Leitartikel anders lauten:

Für uns ist die Wahrheit der Tatsachen nur ein Mittel zum Zweck, wo sie nicht passt, wird sie passend gemacht. Strenge Sachlichkeit in der Berichterstattung bringt in unserer Empörungs-Gesellschaft keine Quote, Andersmeinende verwirren nur das gemeine Volk; und wer nicht an der Oberfläche der Dinge stehen bleibt, sondern ihre geistigen Hintergründe aufsucht, verliert Leser.

Wir schreiben für die Denkfaulen – für wen denn sonst?
  
Weitere Quellen:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.