Freitag, 5. Juli 2024

Wie wir unser Abitur feierten

 

Im bayerischen Dorfen tobt nach einer bemerkenswerten Abiturfeier die Kommentarschlacht in den Medien.

https://www.merkur.de/lokales/erding/dorfen-ort28598/dorfener-abi-rede-dorfen-wir-haben-diese-standpauken-oft-erlebt-so-kam-es-zur-93164546.html#id-Comments

Je nach individueller Perspektive wird der jeweiligen Gegenseite die „Reife“ abgesprochen.

Die jugendlichen Verfasser der dortigen Abiturrede fordern nun „Fairness“, da sie ja nur geäußert hätten, was sie für „Kritik“ halten. Und ein wenig wollte man sicher auch dem bösen Schulleiter eins auswischen. Feindschaften müssen ja gepflegt werden.

https://www.merkur.de/lokales/erding/dorfen-ort28598/dorfener-abi-rede-dorfen-wir-haben-diese-standpauken-oft-erlebt-so-kam-es-zur-93164546.html

Da ich die sicherlich lange Vorgeschichte der Affäre nicht kenne, mag ich mich nicht zur charakterlichen Ausstattung der Akteure äußern. Als Sprachjunkie sage ich nur: Was Oberstudiendirektor Höß bei der Abifeier hinbekommen hat, war dramaturgisch vom Feinsten.

Das bestandene Abitur muss ja heute bis zum Abwinken gefeiert werden: Ohne eine größere Zahl von Festivitäten plus Geldaufwand geht gar nichts. Da werden die Söhnchen in modische Anzüge und die Töchterlein in lange Abendkleider gesteckt, Mutti war nochmal beim Friseur, und Vati hat zumindest die Mottenkugeln aus der Beerdigungs-Montur geschüttelt. Und das Reifezeugnis erhöht den sozialen Status der Erzeuger doch erheblich und ist daher zur Beeindrucke der Nachbarn bestens geeignet!

Und in dieser Situation ersehnter Größe stellt sich ein Schulleiter ans Mikrofon und verkündet kurz und knapp, wegen fehlender Reife gäbe es da nix zu feiern – und die Abiturzeugnisse konnte man sich bei den niederen Chargen abholen.

Ehrlich, da hätte er auch mit einem Wurstgürtel ins Krokodilbecken springen können – der provozierte Tumult war grandios, die Provinz hat nun ein Diskussionsthema für Wochen.

Ich finde es faszinierend, was Rhetorik ausrichten kann, und daher sage ich: Technisch gesehen war die Rede des Chefs zum Niederknien gut!

Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie ein Nachdenken darüber auslöst, wie man an den Schulen eigentlich miteinander umgehen sollte. Und wieso heute viele Lehrerinnen und Lehrer froh sind, wenn sie möglichst bald den Ruhestand erreichen können – und angehende Pädagogen es sich zweimal überlegen, ob sie diesen Beruf wirklich ergreifen sollen. Ich schrieb einmal, die Kolleginnen und Kollegen hätten den Rücken frei, denn hinter ihnen stünde niemand mehr.

Für mich war die Geschichte der Anlass, mein altes Abiturzeugnis vom 20.6.1970 herauszukramen. Tatsächlich betitelt es sich „Zeugnis der Reife“. Hat auch nicht jeder…

Es waren völlig andere Zeiten: Lehrer waren absolute Autoritätspersonen, an ihrem Urteil zu zweifeln galt als Hochverrat. Man hatte sie als „Herr Professor“ anzusprechen (Lehrerinnen gab es kaum). Unser Chef war ein lupenreiner Deutschnationaler, dessen Gebaren selbst im damaligen „Establishment“ Stirnrunzeln auslöste. Die Horrorvorstellung, aus seiner Hand das Abizeugnis zu erhalten, mochten wir nicht verwirklichen.

Daher weigerten wir uns, an einer Abiturfeier teilzunehmen. „Abistreich“, Abizeitung, Abiturball und andere Aktivitäten waren uns eh nicht geläufig. In unserem Garten dufte ich eine Party veranstalten, bei der schon meine Eltern Ausschreitungen aller Art verhinderten. Unser Abschlusszeugnis, im Jargon als „Wisch“ bezeichnet, holten wir uns im Sekretariat ab.

Ich habe nun lange darüber nachgedacht, ob wir damals einen Grund zum Feiern sahen – und wenn ja, welchen.

Ich glaube, am ehesten freuten wir uns, endlich die „Penne“ verlassen zu können. Die meisten von uns wollten studieren oder jedenfalls einen Beruf ergreifen, für den das Reifezeugnis eine gute Voraussetzung bot. Und sicherlich haben die Kumpel irgendwo privat gefeiert. Als Klasse oder gar Jahrgangsstufe waren wir sehr heterogen. Klar gab es diverse persönliche Freundschaften, mehr aber nicht.

Im dunklen Anzug an einer offiziellen Feierlichkeit teilzunahmen, wäre uns als „kleinbürgerliches Ritual“ lächerlich erschienen. Und nach einer Abiturrede gelüstete es niemanden von uns. Wir hätten gar nicht gewusst, welche Sprache wir verwenden sollten, um von den Erwachsenen verstanden zu werden.

Bedauere ich es heute, das Abitur ohne rauschende Feste erhalten zu haben? Und ohne die Lehrerschaft nochmal so richtig provoziert zu haben? Sicher nicht!

Und obwohl es sich bei der Mehrzahl unserer Ausbilder um autoritäre Hansel handelte, haben wir bei einigen von ihnen richtig viel gelernt und uns so eine solide Basis für den Beruf verschafft. Bei denen haben wir uns fallweise sogar persönlich bedankt. Der Dank wäre herzlicher ausgefallen, wenn man ein wenig netter mit uns umgegangen wäre.

Auf jeden Fall aber haben wir eine „höhere Schulbildung“ erhalten, welche diesen Namen noch verdiente. Welchen riesigen Vorteil das bedeutete, haben wir im weiteren Leben erfahren.

Das ist doch was!

P.S. Zur Dorfener Affäre:

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2024/07/zum-fremdschamen.html

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