Nachdem bereits 1921
der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger
einem Attentat der rechtsradikalen „Organisation Consul“ zum Opfer fiel, ermordeten
Mitglieder dieser Gruppe 1922 auch den liberalen Politiker und Außenminister Walther Rathenau.
Beide waren als angebliche
„Erfüllungspolitiker“ der alliierten
Siegermächte („Entente“) Hassobjekte der
rechten Szene. Deren Presse veröffentlichte schon lange übelste
Verunglimpfungen über demokratische Politiker. Zudem war die jüdische
Abstammung Rathenaus Ziel vieler Attacken.
Das Deutsche Reich
stand damals wegen der Reparationszahlungen
aus dem Versailler Vertrag unter
erheblichem politischen und wirtschaftlichen Druck. Dies lasteten die
Nationalisten jedoch nicht der kaiserlichen Kriegspolitik, sondern den Vertretern
der jungen Weimarer Republik an.
Der Mord an Rathenau
führte zu riesigen Protesten in der Arbeiterschaft und Tumulten im Reichstag. Einen Tag später (25.6.1922)
kam es dort zu einer sehr bemerkenswerten, häufig von Beifall aus der Mitte und
der Linken begleiteten Ansprache,
die ich in Ausschnitten zitiere. Den Redner nenne ich erst zum Schluss!
Trotz der Leere des Hauses oder gerade deswegen will ich
eine ruhige Minute benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit zu erbitten. Es war nicht
möglich, gestern Mittag und gestern Abend den Werdegang des Herrn Ministers
Rathenau und seine Verdienste um das deutsche Volk, den deutschen Staat und die
deutsche Republik ausgiebig zu würdigen. Es war auch nicht möglich, in Ihrer
Mitte – und ich persönlich müsste als sein Freund das mit besonderer Bewegung
tun – über die großen Entwürfe seiner Seele zu sprechen. Allein, meine Damen
und Herren, eins will ich in Ihrer Mitte doch sagen. Wenn Sie in Deutschland
auf einen Mann, auf seine glänzenden Ideen und auf sein Wort hätten bauen
können, in einer Frage die Initiative zu ergreifen im Interesse unseres
deutschen Volkes, dann wäre es die Weiterarbeit des Herrn Dr. Rathenau
bezüglich der großen Schicksalsfrage der Alleinschuld Deutschlands am Kriege
gewesen.
(…)
Ich habe erwartet, dass heute nicht nur eine Verurteilung
des Mordes an sich erfolgt, sondern dass diese Gelegenheit benützt wird, einen
Schnitt zu machen gegenüber denen, gegen die sich die leidenschaftlichen Anklagen
des Volkes durch ganz Deutschland erheben. Ich habe erwartet, dass von dieser
Seite heute ein Wörtchen falle, um einmal auch die in Ihren eignen Reihen zu
einer gewissen Ordnung zu rufen, die an der Entwicklung einer Mordatmosphäre in
Deutschland zweifellos persönlich Schuld tragen.
(…)
Wie weit die Vergiftung in Deutschland geht, will ich einmal
an einem Beispiel zeigen. Ich verstehe, dass man an der Politik der Regierung,
an unserem Verhalten persönlicher und politischer Art Kritik üben kann. Warum
nicht? Ich verstehe auch ein scharfes Wort, verstehe auch Hohn und Spott im
politischen Kampf, verstehe die Verzerrung zur Karikatur. Ziel und Richtung
unserer Politik – das ist, glaube ich, oder sollte es wenigstens sein,
Gemeingut des ganzen Hauses – Ziel und Richtung unserer Politik ist die Rettung
der deutschen Nation.
(…)
Meine Damen und Herren, da glaubt nun ein Reichstagskollege
folgendes schreiben zu können:
(…)
Er spricht in seinem Blatte von Forderungen über neue Verträge, die notwendig sind, um die Arbeiter und Beamten in ihren Bezügen aufzubessern. Dann fährt der betreffende Kollege fort:
Er spricht in seinem Blatte von Forderungen über neue Verträge, die notwendig sind, um die Arbeiter und Beamten in ihren Bezügen aufzubessern. Dann fährt der betreffende Kollege fort:
„Die jetzige Regierung ist in Wirklichkeit nur eine vom Deutschen Reich
zwar bezahlte Angestellte der Entente, die ihre Forderungen und Vorschriften
einfach zu erfüllen hat; sonst wird sie einfach auf die Straße gesetzt und ist
brotlos.“
(…)
Können Sie sich eine größere Entwürdigung von Menschen
denken, die, wie wir, seit Jahresfrist an dieser Stelle stehen? Steigt Ihnen
(zu den Deutschnationalen) da nicht auch die Schamröte ins Gesicht?!
(…)
Nun kommt er zum Schluss und sagt von uns, die wir hier
seien, um unser Brot zu verdienen, die wir Entente-Knechte seien, die wir
deshalb die Politik machen, damit wir der Entente gefallen und dadurch eine
Anstellung haben:
„... nur das diese Kreise von der Arbeiterschaft nicht zu dem Schluss
kommen, dass das ganze System zum Teufel gejagt werden muss, weil wir in Berlin
eine deutsche Regierung, aber keine Entente-Kommission brauchen.“
(…)
Meine Damen und
Herren! Wo ist ein Wort gefallen im Laufe des Jahres von Ihrer Seite gegen das
Treiben derjenigen, die die Mordatmosphäre in Deutschland tatsächlich
geschaffen haben?! (..) Da wundern Sie sich über die Verwilderung der Sitten,
die damit eingetreten ist?
Wir haben in Deutschland geradezu eine politische
Vertiertheit.
(…)
(…)
Ich habe die Briefe gelesen, die die unglückliche Frau
Erzberger bekommen hat. Wenn Sie, meine Herren, diese Briefe gesehen hätten –
die Frau lehnt es ab, sie der Öffentlichkeit preiszugeben – wenn Sie wüssten,
wie man diese Frau, die den Mann verloren hat, deren Sohn rasch dahingestorben
ist, deren eine Tochter sich dem religiösen Dienst gewidmet hat, gemartert hat,
wie man in diesen Briefen der Frau mitteilt, dass man die Grabstätte des Mannes
beschmutzen will, nur um Rache zu üben –
(…)
Wundern Sie (nach rechts) sich, wenn unter dem Einfluss
der Erzeugnisse Ihrer Presse der letzten Tage Briefe an mich kommen, wie ich
hier einen von gestern in der Hand habe, der die Überschrift trägt: „Am Tage der Hinrichtung Dr. Rathenaus!“
Wundern Sie sich dann, meine Herren, wenn eine Atmosphäre geschaffen ist, in
der auch der letzte Funke politischer Vernunft erloschen ist?
Ich will mich
mit dem Briefe sonst nicht weiter beschäftigen und nur den Schlusssatz
vorlesen:
„Im Guten habt ihr Männer des Erfüllungswahnsinns auf die Stimme derer
nicht hören wollen, die von der Fortsetzung der Wahnsinnspolitik abrieten. So
nehme denn das harte Verhängnis seinen Lauf, auf dass das Vaterland gedeihe!“
Wollen wir aus dieser Atmosphäre – und das ist es doch,
worauf es allein ankommt – wieder heraus, wollen wir gesunden, wollen wir aus
diesem Elend herauskommen, dann muss das System des politischen Mordes endlich
enden, das die politische Ohnmacht eines Volkes offenbart.
(…)
Niemals habe ich einen Mann edlere vaterländische Arbeit
verrichten sehen als Dr. Rathenau. Was aber war nach der rechtsvölkischen
Presse sein Motiv? Ja, meine Damen und Herren, wenn ich in diesem Briefe lese,
dass natürlich die Verträge alle nur abgeschlossen sind, damit er und seine
Judensippschaft sich bereichern können, dann können Sie wohl verstehen, dass
unter dieser völkischen Verheerung, unter der wir leiden, unser deutsches
Vaterland rettungslos dem Untergang entgegentreiben muss.
(…)
Ich muss hier das Wort wiederholen, das ich seinerzeit gesprochen
habe, dass in einem so wahnwitzigen Entscheidungskampf, den viele von Ihnen
gewissenlos herbeiführen, uns unsere Pflicht dahin führt, wo die großen Scharen
des arbeitenden Volkes stehen.
(…)
Wie oft haben wir mahnend und flehend gerade nach dem
Auslande hin die Hände erhoben und haben gesagt: Gebt dem demokratischen
Deutschland jene Freiheit, deren das demokratische Deutschland bedarf, um im
Herzen Europas eine Staatsform zu schaffen, die eine Gewähr des Friedens
bietet. Unsere Mahnungen sind verhallt. Erst in dem Augenblick, wo man gesehen
hat, dass die ganze Welt leidet, wenn das deutsche Volk zugrunde geht, ist
allmählich erst durch wirtschaftliche Erwägungen der Hass etwas zurückgetreten.
Aber die politischen Folgerungen aus dieser veränderten Atmosphäre sind bis zur
Stunde noch nicht gezogen.
(…)
Darüber besteht kein Zweifel. Es ist für ein
Sechzig-Millionen-Volk auf die Dauer unmöglich, unter der Herrschaft von
fremden Kommissionen, und wenn es die Herren noch so gut meinen sollten, ein
demokratisches Deutschland überhaupt lebensfähig zu machen.
(…)
Da wundert es mich nicht mehr, dass diese Erkenntnis den
General Ludendorff veranlasst hat, in einer englischen Zeitschrift einen
Artikel zu schreiben und für Deutschland die Diktatur zu empfehlen, die
monarchistische Diktatur. Dieser Artikel ist eines deutschen Generals unwürdig.
(…)
Gewiss, meine Damen und Herren, mit nationalistischen
Kundgebungen lösen Sie kein Problem in Deutschland. Ist es denn eine Schande,
wenn jemand von uns, von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten, in
idealem Schwung die Fäden der Verständigung mit allen Nationen anzuknüpfen
versucht? Ist es eine Schande, wenn wir mit jenem gemäßigten Teil des
französischen Volkes, der die Probleme nicht nur unter dem Gesichtspunkt sieht:
Wir
sind die Sieger, wir treten die Boches nieder, heraus mit dem Säbel, Einmarsch
ins Ruhrgebiet – wenn wir durch persönliche Beziehungen mit allen
Teilen der benachbarten Nationen zu einer Besprechung der großen Probleme zu
kommen suchen? Dr. Rathenau war wie kaum einer zu dieser Aufgabe berufen.
(…)
Geduld, meine Damen und Herren, wieder Geduld und
nochmals Geduld und die Nerven angespannt und zusammengehalten auch in den
Stunden, wo es persönlich und parteipolitisch angenehmer wäre, sich in die
Büsche zu drücken!
(…)
In jeder Stunde, meine Damen und Herren, Demokratie! Aber
nicht Demokratie, die auf den Tisch schlägt und sagt: Wir sind an der Macht! - Nein,
sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für das eigene unglückliche
Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht! In diesem Sinne, meine Damen und
Herren, Mitarbeit! In diesem Sinne müssen alle Hände, muss jeder Mund sich
regen, um endlich in Deutschland diese Atmosphäre des Mordes, des Zankes, der
Vergiftung zu zerstören!
Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die
Wunden eines Volkes träufelt. - Da steht der Feind – und darüber ist kein
Zweifel: Dieser Feind steht rechts!
Die Ansprache in vollem Wortlaut:
Die Ansprache in vollem Wortlaut:
Diese Rede hielt weder ein Sozialdemokrat oder gar Kommunist,
sondern der Zentrums-Politiker Joseph
Wirth, seines Zeichens Reichskanzler
von 1921 bis 1922.
Er warnte vor einer
Entwicklung, die 11 Jahre später schlimme Wirklichkeit wurde. Wenn heute wieder
deutsche Politiker Opfer von Bedrohungen, Attentaten und Mordanschlägen werden,
sollte man sich erinnern: Die erste Republik auf deutschem Boden scheiterte,
weil sie sich nicht genug gegen Antidemokraten wehrte…
P.S. Die beiden
Mörder Erzbergers flohen zunächst ins Ausland und wurden 1933 von den Nazis
amnestiert. Erst nach dem Krieg verurteilte man sie auf Betreiben Frankreichs zu
langjährigen Freiheitsstrafen, von denen sie nur einen kleinen Teil
absitzen mussten. Bereits 1952 waren sie wieder auf freiem Fuß.
Der ehemalige Reichskanzler Joseph Wirth emigrierte 1933 ins Ausland und
kehrte erst 1954 in die Bundesrepublik zurück. Er galt als entschiedener Gegner
der Politik Adenauers und erhielt wegen seiner Ost-Kontakte in seiner Heimat
keine Pensionszahlungen.
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