„WENN DU ALLES GETAN
HAST, DANN LEG DEN SCHLÜSSEL VOR DIE TÜR UND
WANDERE STILL DAVON.“
(VINCENZ VON PAUL)
Lehrerzimmer wirken
immer trist – ob nun mit Lehrern oder nur die Zimmer. Jetzt, nach
dem Trubel des letzten Schultags, erscheinen sie geradezu nachsintflutlich.
Wieder einmal habe ich den pünktlichen Abgang verpasst, wie damals
in den ersten Berufsjahren, als mich mein Chef einmal abends um acht
noch in der Schule erblickte. „Na, Sie finden wohl auch kein Ende“, war
eine Motivation mit Langzeitwirkung fürs Entertainment-Fach: Zur rechten
Zeit auftreten, vor allem jedoch ja nicht zu spät abgehen –
Verbeugung, Vorhang – egal, wie viel Applaus es gab für eine Inszenierung, in
die man sich halt einfügen musste, wie groß darin die eigene Rolle war,
wie viele Fragen noch offen sind in einem Bildungssystem, das längst kaum noch
einen betroffen zurücklässt. Bloß nicht warten, bis pfeifende
Bühnenarbeiter und ein gnadenloses Umbaulicht der Szene die letzten
Illusionen rauben!
Die Teeküche sieht
aus wie eine Bahnhofskneipe nach Abfahrt des letzten Zuges. Mechanisch
stelle ich die Sektgläser und Kaffeetassen in die Spülmaschine, den Kühlschrank lasse
ich lieber geschlossen – die hygienischen Standards von
Personen, welche junge Menschen zu einer verantwortlichen Lebensführung
erziehen sollen, sind für mich immer noch unglaublich!
Auf dem Fensterbrett
steht ein Bierglas, halb voll Wasser, drei Rosenblätter
schwimmen darin, daneben zerknülltes Gärtnereipapier: Kein Zweifel, hier
wirkte der Personalrat. Unser ältester Kollege wurde heute verabschiedet –
einer der wenigen, die sich nicht mit übel klingenden Diagnosen hatten
versehen lassen, um rechtzeitig, also vor der Pensionsgrenze, zu gehen. Leiden, die
wahrheitsgemäß heißen müssten: fehlende Kraft, der Unlogik
des Systems zu widerstehen.
Er hatte sich den
Widersprüchen ausgesetzt, seinen Alterungsprozess gegen den um sich
greifenden Berufsinfantilismus gestellt – und es war ihm schlecht
bekommen, sich mit Kindern jeden Alters dem Rampenlicht auszusetzen: Er ward
zum „Original“, das als Kopie von der Schülerzeitung bis zur Abiturrevue
vervielfältigt wurde, längst schon wohlgenormtes
Abziehbild für Köpfe
unter verkehrt sitzenden Baseballkappen und deren heimliche
Sympathisanten.
Sicher hatten auch Chef, Personalratsvorsitzender und
Fachbetreuer launige Abschiedsworte gefunden – die „unverwechselbare
Lehrerpersönlichkeit“ treffend und dabei balancierend über dem Abgrund
feixender Peinlichkeit solcher Schlussszenen, unbewusst ahnend, was
auch sie dereinst erwarten würde: ein Blumenstrauß und Pharisäer, die
den Ausstand proben.
Ein Geräusch lenkt
mich ab: Eine Fliege versucht zum hundertsten Mal vergeblich, durch das
geschlossene Fenster zu entkommen. 350 Millionen Jahre Evolution,
Siege im Kampf mit der Umwelt, kollidieren mit der Erfindung des
Fensterglases. Zuerst ins Dunkle zu fliegen, um dann ans Licht zu kommen,
ist in diesem biologischen System noch nicht vorgesehen: wieder ein zu später
Abgang!
Wohin nun mit der
leeren Zeugnismappe? Im Sekretariat ist sicher niemand mehr, die sind längst
beim Mittagessen, zu dem, nach alljährlicher Tradition, auch die
pensionierten Kollegen eingeladen sind. Seit jeher meide ich diese
Veteranentreffen, welche eine alte Paukerherrlichkeit glorifizieren, die
nie bestanden hat, sowie eine Kontinuität vorgaukeln, die angesichts der
immer hektischeren Neuerfindungen des Rades reine Chimäre ist: stille
Tage in Klischee.
Selbst wenn ich
mitmachen wollte – ich werde nach der Zeugnisverteilung nie rechtzeitig
feierbereit, sortiere noch Entschuldigungszettel, während um mich herum
bereits die „Sekt oder Orangensaft?“-Frage zirkuliert. Wieso eigentlich,
trotz meiner Angst vor verspäteten Schlüssen? Versuche ich da noch
wenigstens die Form eines Systems zu retten, an dessen Inhalt ich
längst zweifle? Es wirkt fast schon wie ein Fremdkörper, dieses Ritual des
letzten Schultags, nach den viel bedeutsameren zwei Wochen der Projekte, Sport-
und Schulfeste – diese Ausgabe von Mitteilungen, die so tun, als ob es
wirklich um die Gegenstände ginge, die da vor den Noten stehen.
Wann hat mein Chef
mit mir zum letzten Mal über die Inhalte meines Unterrichts
gesprochen? Nicht mal bei der Beurteilung (auch so ein ritualisierter Termin) – da bezog er
sich ebenfalls nur auf deren Darbietung.
Stundenpläne,
Schullandheimtermine, der letzte Stand der Neueinschreibungen – das sind die
Formen, welche die eigentlichen Themen ersetze müssen. Die Erkenntnisse
aber, nach denen wir einst im Studium strebten, die Teilerfolge, die
wir errangen – ist das nicht längst nur noch „Stoff“ meist abgewertet mit
den Begriffen „Fülle“ oder „Überfrachtung“?
Wen erreicht er noch,
die Kids mit den Zapper-Gehirnen, die karriereblinden Eltern, alerte
Qualifizierungsstufen-Manager oder gar die Kultusbürokraten, die nicht einmal mehr
das aufweisen, was wir einst an ihnen kritisierten: ihr
Beharrungsvermögen? Ist das Gymnasium nicht längst der Ort, wo nicht Interesse,
sondern Interessen regieren? Absatzmarkt für Lehrmittelfirmen, Werbeziel von
Sparkassen-Preisausschreiben plus Ökoaktionen von Chemiekonzernen,
Spielplatz für ehrgeizige Kommunalpolitiker oder Elternbeiräte
(manchmal in Personalunion)!
Wie bei anderen
modernen Aufführungen geht es weniger um das Stück
als um die
Inszenierung.
Vertretungsplan,
Aktenordner, Schulaufgabenpapier und die stets ohne Klammern
zurückgelassene Heftmaschine – dieses so vertraute Szenari wirkt auf mich
plötzlich so irreal wie das Bühnenbild eines absurden Dramas. Ist dies nach
zwanzig Jahren schon das gefürchtete Burnout Syndrom? Wieder so
ein abgefeimtes Bild: Brennstoffmangel – kann man Flammen nicht ebenso
gut ersticken?
Was soll’s, auch
mieses Theater bringt Gage, oft mehr als gutes, zumal wir für eine Serie
verpflichtet wurden – und bis zum Ende der Lindenstraß heißt es noch etliche
Jahre chargieren, ohne zu lange in die Schwarzwaldklinik zu müssen, folglich:
Vorhang, Ende der Spielzeit – Fortsetzung gefälligst erst nach den Ferien!
Es klopft an der Tür.
Hat denn das Stück überhaupt kein Ende? Siehe da, die Drachenhöhle
birgt noch ein kleines Monster, freilich ein ziemlich verheultes: Es hat sein Zeugnis
im Klassenzimmer liegen lassen, ob ich aufsperren könne? Und wo bitte?
Natürlich im dritten Stock – na wenn schon, mich erschüttert
heute nichts mehr, auch als mir dann oben einfällt, dass ich noch mal ins
Lehrerzimmer muss, da steht nämlich meine Schultasche.
Dort fällt mein Blick
auf das Fenster: ja richtig, die Fliege. Der sperre ich jetzt auch noch auf –
an diesem Ort soll (bis auf die Schimmelpilzkulturen im Kühlschrank)
nichts Lebendes verbleiben. Die Schritte hinter mir höre ich jetzt erst. Der
kleine Schlamper, inzwischen bewaffnet mit Zeugnis in Klarsichtfolie,
lächelt mich aus halb getrockneten Augen an: „Und schöne Ferien!“ Wird das ein
Händedruck? Nein: Ein klebriges Bonbon hat den
Besitzer gewechselt.
Sollte auch ich im
Alltagsbetrieb etwas vergessen haben? Wie dem auch sei, auf
jeden Fall raus hier – denn in der Schule finde ich es nun nicht mehr.
***
Der obige Text stammt
aus meinem Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“. Er bildet dort das
Schlusskapitel. Falls Sie die 346 Seiten davor interessieren:
Titel: Der bitterböse Lehrer-Retter
Untertitel: Überlebensstrategien hinterm Pult
1. Auflage, 2012
Autor und Copyright: Gerhard Riedl
Illustration, Satz, Layout: Manuela Bößel
Lektorin: Karin Law Robinson-Riedl
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-8448-1223-7
Umfang: 359 Seiten mit 39 Illustrationen
Preis: 22,90 €
Erhältlich auch als E-Book in verschiedenen Formaten!
Bestellungen
sind auch direkt bei mir möglich:
mamuta-kg(at)web.de
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