Donnerstag, 14. Februar 2019

VORHANG


„WENN DU ALLES GETAN HAST, DANN LEG DEN SCHLÜSSEL VOR DIE TÜR UND WANDERE STILL DAVON.“
(VINCENZ VON PAUL)

Lehrerzimmer wirken immer trist – ob nun mit Lehrern oder nur die Zimmer. Jetzt, nach dem Trubel des letzten Schultags, erscheinen sie geradezu nachsintflutlich. Wieder einmal habe ich den pünktlichen Abgang verpasst, wie damals in den ersten Berufsjahren, als mich mein Chef einmal abends um acht noch in der Schule erblickte. „Na, Sie finden wohl auch kein Ende“, war eine Motivation mit Langzeitwirkung fürs Entertainment-Fach: Zur rechten Zeit auftreten, vor allem jedoch ja nicht zu spät abgehen – Verbeugung, Vorhang – egal, wie viel Applaus es gab für eine Inszenierung, in die man sich halt einfügen musste, wie groß darin die eigene Rolle war, wie viele Fragen noch offen sind in einem Bildungssystem, das längst kaum noch einen betroffen zurücklässt. Bloß nicht warten, bis pfeifende Bühnenarbeiter und ein gnadenloses Umbaulicht der Szene die letzten Illusionen rauben!

Die Teeküche sieht aus wie eine Bahnhofskneipe nach Abfahrt des letzten Zuges. Mechanisch stelle ich die Sektgläser und Kaffeetassen in die Spülmaschine, den Kühlschrank lasse ich lieber geschlossen – die hygienischen Standards von Personen, welche junge Menschen zu einer verantwortlichen Lebensführung erziehen sollen, sind für mich immer noch unglaublich!

Auf dem Fensterbrett steht ein Bierglas, halb voll Wasser, drei Rosenblätter schwimmen darin, daneben zerknülltes Gärtnereipapier: Kein Zweifel, hier wirkte der Personalrat. Unser ältester Kollege wurde heute verabschiedet – einer der wenigen, die sich nicht mit übel klingenden Diagnosen hatten versehen lassen, um rechtzeitig, also vor der Pensionsgrenze, zu gehen. Leiden, die wahrheitsgemäß heißen müssten: fehlende Kraft, der Unlogik des Systems zu widerstehen.

Er hatte sich den Widersprüchen ausgesetzt, seinen Alterungsprozess gegen den um sich greifenden Berufsinfantilismus gestellt – und es war ihm schlecht bekommen, sich mit Kindern jeden Alters dem Rampenlicht auszusetzen: Er ward zum „Original“, das als Kopie von der Schülerzeitung bis zur Abiturrevue vervielfältigt wurde, längst schon wohlgenormtes
Abziehbild für Köpfe unter verkehrt sitzenden Baseballkappen und deren heimliche Sympathisanten.

Sicher hatten auch Chef, Personalratsvorsitzender und Fachbetreuer launige Abschiedsworte gefunden – die „unverwechselbare Lehrerpersönlichkeit“ treffend und dabei balancierend über dem Abgrund feixender Peinlichkeit solcher Schlussszenen, unbewusst ahnend, was auch sie dereinst erwarten würde: ein Blumenstrauß und Pharisäer, die den Ausstand proben.

Ein Geräusch lenkt mich ab: Eine Fliege versucht zum hundertsten Mal vergeblich, durch das geschlossene Fenster zu entkommen. 350 Millionen Jahre Evolution, Siege im Kampf mit der Umwelt, kollidieren mit der Erfindung des Fensterglases. Zuerst ins Dunkle zu fliegen, um dann ans Licht zu kommen, ist in diesem biologischen System noch nicht vorgesehen: wieder ein zu später Abgang!

Wohin nun mit der leeren Zeugnismappe? Im Sekretariat ist sicher niemand mehr, die sind längst beim Mittagessen, zu dem, nach alljährlicher Tradition, auch die pensionierten Kollegen eingeladen sind. Seit jeher meide ich diese Veteranentreffen, welche eine alte Paukerherrlichkeit glorifizieren, die nie bestanden hat, sowie eine Kontinuität vorgaukeln, die angesichts der immer hektischeren Neuerfindungen des Rades reine Chimäre ist: stille Tage in Klischee.

Selbst wenn ich mitmachen wollte – ich werde nach der Zeugnisverteilung nie rechtzeitig feierbereit, sortiere noch Entschuldigungszettel, während um mich herum bereits die „Sekt oder Orangensaft?“-Frage zirkuliert. Wieso eigentlich, trotz meiner Angst vor verspäteten Schlüssen? Versuche ich da noch wenigstens die Form eines Systems zu retten, an dessen Inhalt ich längst zweifle? Es wirkt fast schon wie ein Fremdkörper, dieses Ritual des letzten Schultags, nach den viel bedeutsameren zwei Wochen der Projekte, Sport- und Schulfeste – diese Ausgabe von Mitteilungen, die so tun, als ob es wirklich um die Gegenstände ginge, die da vor den Noten stehen.

Wann hat mein Chef mit mir zum letzten Mal über die Inhalte meines Unterrichts gesprochen? Nicht mal bei der Beurteilung (auch so ein ritualisierter Termin) – da bezog er sich ebenfalls nur auf deren Darbietung.

Stundenpläne, Schullandheimtermine, der letzte Stand der Neueinschreibungen – das sind die Formen, welche die eigentlichen Themen ersetze müssen. Die Erkenntnisse aber, nach denen wir einst im Studium strebten, die Teilerfolge, die wir errangen – ist das nicht längst nur noch „Stoff“ meist abgewertet mit den Begriffen „Fülle“ oder „Überfrachtung“?

Wen erreicht er noch, die Kids mit den Zapper-Gehirnen, die karriereblinden Eltern, alerte Qualifizierungsstufen-Manager oder gar die Kultusbürokraten, die nicht einmal mehr das aufweisen, was wir einst an ihnen kritisierten: ihr Beharrungsvermögen? Ist das Gymnasium nicht längst der Ort, wo nicht Interesse, sondern Interessen regieren? Absatzmarkt für Lehrmittelfirmen, Werbeziel von Sparkassen-Preisausschreiben plus Ökoaktionen von Chemiekonzernen, Spielplatz für ehrgeizige Kommunalpolitiker oder Elternbeiräte (manchmal in Personalunion)!

Wie bei anderen modernen Aufführungen geht es weniger um das Stück
als um die Inszenierung.

Vertretungsplan, Aktenordner, Schulaufgabenpapier und die stets ohne Klammern zurückgelassene Heftmaschine – dieses so vertraute Szenari wirkt auf mich plötzlich so irreal wie das Bühnenbild eines absurden Dramas. Ist dies nach zwanzig Jahren schon das gefürchtete Burnout Syndrom? Wieder so ein abgefeimtes Bild: Brennstoffmangel – kann man Flammen nicht ebenso gut ersticken?

Was soll’s, auch mieses Theater bringt Gage, oft mehr als gutes, zumal wir für eine Serie verpflichtet wurden – und bis zum Ende der Lindenstraß heißt es noch etliche Jahre chargieren, ohne zu lange in die Schwarzwaldklinik zu müssen, folglich: Vorhang, Ende der Spielzeit – Fortsetzung gefälligst erst nach den Ferien!

Es klopft an der Tür. Hat denn das Stück überhaupt kein Ende? Siehe da, die Drachenhöhle birgt noch ein kleines Monster, freilich ein ziemlich verheultes: Es hat sein Zeugnis im Klassenzimmer liegen lassen, ob ich aufsperren könne? Und wo bitte? Natürlich im dritten Stock – na wenn schon, mich erschüttert heute nichts mehr, auch als mir dann oben einfällt, dass ich noch mal ins Lehrerzimmer muss, da steht nämlich meine Schultasche.

Dort fällt mein Blick auf das Fenster: ja richtig, die Fliege. Der sperre ich jetzt auch noch auf – an diesem Ort soll (bis auf die Schimmelpilzkulturen im Kühlschrank) nichts Lebendes verbleiben. Die Schritte hinter mir höre ich jetzt erst. Der kleine Schlamper, inzwischen bewaffnet mit Zeugnis in Klarsichtfolie, lächelt mich aus halb getrockneten Augen an: „Und schöne Ferien!“ Wird das ein Händedruck? Nein: Ein klebriges Bonbon hat den
Besitzer gewechselt.

Sollte auch ich im Alltagsbetrieb etwas vergessen haben? Wie dem auch sei, auf jeden Fall raus hier – denn in der Schule finde ich es nun nicht mehr.

***

Der obige Text stammt aus meinem Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“. Er bildet dort das Schlusskapitel. Falls Sie die 346 Seiten davor interessieren:

Titel: Der bitterböse Lehrer-Retter
Untertitel: Überlebensstrategien hinterm Pult
1. Auflage, 2012
Autor und Copyright: Gerhard Riedl
Illustration, Satz, Layout: Manuela Bößel
Lektorin: Karin Law Robinson-Riedl
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-8448-1223-7
Umfang: 359 Seiten mit 39 Illustrationen
Preis: 22,90 €
Erhältlich auch als E-Book in verschiedenen Formaten!

Bestellungen sind auch direkt bei mir möglich:
mamuta-kg(at)web.de



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