„Der ehemalige
Schuldirektor (…) sagte aus, dass das gutartige Kind während der Schulzeit
niemals auf Spatzen und deutsche Schriftsteller geschossen habe.“
(Kurt Tucholsky:
Prozess Harden, 1922)
Hier
meine Übersetzung des Briefs eines Vaters an den Richter, vor dem sein Sohn
steht:
Euer Ehren Richter
Aaron Persky,
ich schreibe diesen
Brief, um Ihnen von meinem Sohn Brock, von der Person, wie er nach meinem
Wissen wirklich ist, zu erzählen. Lassen Sie mich zunächst sagen, dass Brock absolut
zerstört von den Ereignissen des 17. und 18. Januars ist. Er würde alles tun,
um die Uhr zurückzudrehen und diese Nacht noch einmal anders ablaufen zu
lassen.
Nach vielen
Vier-Augen-Gesprächen, die ich mit Brock seit diesem Tag hatte, kann ich Ihnen
berichten, dass ihm das Geschehene in dieser Nacht wirklich leid tut, und all
der Schmerz und das Leid, das er für diejenigen verursacht hat, die darin
verwickelt und dadurch beeinträchtigt waren. Er hat seine wahrhafte Reue für
seine Taten in dieser Nacht zum Ausdruck gebracht. Nachdem wir seit diesem
Vorfall mit Brock unter einem Dach leben, kann ich Ihnen aus erster Hand den
vernichtenden Eindruck schildern, welches dies auf meinen Sohn hatte. Bevor ich
darauf näher eingehe, möchte ich Ihnen gerne einige Erinnerungen an meinen Sohn
darlegen, welche die Qualität seines Charakters zeigen.
Brock hat eine
gutmütige Persönlichkeit, die ihn bei fast jedem, den er trifft, beliebt macht.
Er war stets eine Person, welche die Leute, ob Männer oder Frauen, gerne um
sich haben – und dies von seiner Vorschulzeit bis heute. Ich habe nie erlebt,
dass Brock seine Stimme gegen irgendjemand erhoben hätte – und er hat gegen
niemanden Vorurteile. Er nimmt die Menschen so, wie sie sind – nicht mehr und
nicht weniger. Er hat eine sehr sanfte und ruhige Natur und ein Lächeln, das
wirklich anziehend für seine Umgebung ist. Kein einziges Mal hörte ich ihn über
irgendeine seiner Leistungen prahlen oder sich rühmen. Er ist schlicht ein sehr
bescheidener Mensch, der lieber von den Fertigkeiten anderer hört als über
seine eigenen zu sprechen. Brock hat eine innere Kraft und Stärke jenseits all
dessen, was ich je gesehen habe. Dies wurde zweifellos durch die vielen Jahre
der Schwimmwettkämpfe ausgebaut und war der Hauptgrund dafür, dass er fähig
war, die letzten 15 Monate zu bewältigen.
Brock war stets ein
äußerst engagierter Mensch, ob es nun Wissenschaft, Sport oder die Entwicklung
und Festigung von Bindungen und Freundschaften waren. Brocks Begeisterung für
Bildung begann schon in der Grundschule. Meine schönste Erinnerung betrifft
meine Mithilfe, Brock für den wöchentlichen Buchstabiertest vorzubereiten. Bei
diesen Tests gut abzuschneiden war sehr wichtig für Brock, und er pflegte sich
am Tag vorher vorzubereiten, indem er die Wörter auswendig lernte und sich zu
vergewissern, dass er alles im Kopf beisammen hatte. Ich musste ihn immer
wieder abfragen, nur so war er sicher, beim Test gut abzuschneiden.
Als wir immer am
Freitagmorgen zur Schule fuhren, sollte ich ihn zur endgültigen Vorbereitung
nochmals prüfen. Ich kann Ihnen versichern, dass Brock bei diesen Prüfungen
immer gut abschnitt. Obwohl dieses Beispiel trivial erscheinen mag, war es doch
ein frühes Anzeichen für die Wichtigkeit, die er der Schulbildung zumaß. Als er
älter wurde und in der Schule weiterkam, benötigte er meine Mitwirkung immer
weniger, da er begabt darin ist, sehr komplizierte Zusammenhänge zu begreifen.
Diese natürliche Gabe, gepaart mit einer sehr starken Arbeitsethik, führte zu
akademischen Erfolgen auf allen Ebenen.
Brock war
gleichermaßen talentiert im Sport und nahm am Baseball, Basketball und
Schwimmen teil. Ich war lange während der Grundschulzeit sein Baseball- und
Basketball-Trainer und häuslicher Betreuer. Ich war so stolz, als sein Coach
mitzumachen und zu helfen, da ich so mehr Zeit mit ihm verbringen konnte. Auch
war ich bei vielen Schulausflügen ein Eltern-Begleiter und oft der einzige
Vater bei diesen Exkursionen. Selber liebte ich jede Minute davon, weil es ein
Vergnügen war, Brock um mich zu haben. Er behandelte stets die anderen Kinder,
Eltern und Lehrer mit Respekt. Ich werde die Erinnerung an diese Jahre für
immer in meinem Herzen bewahren.
Ende des Sommers vor
Brocks letztem Jahr an der High School bewarb er sich an der Stanford
Universität mit dem Traum, sowohl seine akademischen wie sportlichen Talente
auf ein neues Niveau zu heben. Brock hatte eine Menge Angebote von vielen
Trainern der ersten Liga wegen seiner Erfolge im Schwimmen und seinen
hervorragenden Schulnoten.
Viele College-Trainer
hatten Interesse an Brock wegen seiner gesamten Arbeit, die er repräsentierte.
Dennoch war Stanford stets seine erste Wahl und der ultimative Preis für
jemanden, der so lange hart gearbeitet hatte. Er besuchte diese Universität im
Sommer 2011 erstmals mit mir zwischen den ersten beiden Jahren an der High
School. Brock war dort, um am ersten nationalen Schwimmwettkampf teilzunehmen
(USA Junior Nationals). Wir waren beide beeindruckt vom Campus, den
Schwimmeinrichtungen und der reichen Geschichte, welche diese Universität
repräsentiert. Ich erinnere mich, Brock gegenüber damals geäußert zu haben,
dies wäre doch ein großartiger Platz, zur Schule zu gehen. Es waren die Schwimmer,
die Stanford besucht hatten.
Dieser erste Eindruck
von Stanford hinterließ einen bleibenden Eindruck auf Brock. Unsere Familie war
voller Stolz und Freude, als wir Ende 2013 erfuhren, dass Brock von Stanford
eine Zusage erhalten hatte. Das war für ihn ein herausragendes Ereignis, da wir
wussten, wie viel er gearbeitet hatte, um diesen Punkt zu erreichen. Was uns am stolzesten machte, war die
Tatsache, dass Brock für das wissenschaftliche Studium zugelassen wurde, bevor
wegen seiner sportlichen Ausbildung entschieden werden konnte. Dies war
besonders bedeutsam angesichts der Rate von 4 Prozent Zusagen in diesem Jahr.
Brock erhielt ein
60-prozentiges Stipendium für seine Schwimmausbildung. Sogar bei einem derart
großzügigen Angebot wussten meine Frau und ich, dass es für unsere Familie eine
finanzielle Anstrengung werden würde, Brock in Stanford studieren zu lassen,
aber wir waren entschlossen, es hinzubekommen, da wir den Wert einer Ausbildung
in Stanford kannten. Als Brocks letztes Jahr an der High School zu Ende ging,
war er bezeichnenderweise bescheiden, was seine Zulassung in Stanford betraf,
und arbeitete bis zur letzten Minute hart im wissenschaftlichen Bereich und
beim Schwimmen.
Als Carleen und ich
Brock im September 2014 nach Stanford brachten, um sein erstes Studienjahr zu
beginnen, fühlten wir beide, dass er umfassend auf diese Erfahrung vorbereitet
war. Er hatte an vielen nationalen Lehrgängen und Wettkämpfen im Schwimmen
teilgenommen und kam damit zurecht, weg von Zuhause zu wohnen. Wir waren sehr
aufgeregt, als Brock sich in Stanford für das erste Vierteljahr als brandneuer
Athletikstudent niederließ. Er zeichnete sich in der Schule aus, da er im
Schwimmteam den besten Notendurchschnitt aller Erstsemester erreichte.
Was wir nicht
erkannten, war das Ausmaß des Kampfes, den Brock so weit von daheim führte.
Brock arbeitete hart, um den harten Ansprüchen von Schule und Schwimmen zu
genügen. Als er in den Weihnachtsferien zu Hause war, brach er zusammen und
erzählte uns, wie sehr er darum kämpfte, sozial akzeptiert zu werden und dass
er nicht gerne so weit von zu Hause weg war. Er war nahezu aufgelöst, da er
wusste, dass er bald aus den Weihnachtsferien zu einem Schwimm-Trainingslager
musste.
Wir überlegten sogar,
ob es richtig wäre, ihn ins Wintersemester nach Standford zurückzuschicken. Im
Rückblick ist es klar, dass Brock sich verzweifelt bemühte, sich in Stanford
einzufügen, und er in die Kultur von Alkoholkonsum und Partys geriet. Diese wurde
maßgeblich beeinflusst durch viele ältere Studenten im Schwimmteam und spielte
eine Rolle bei den Ereignissen des 17. und 18. Januar 2015.
Wenn wir auf Brocks
kurze Erfahrung in Stanford zurückblicken, glaube ich ehrlich gesagt nicht,
dass sie ihm guttat. Er war zwar akademisch und sportlich vorbereitet, aber es
war schlicht zu weit weg von daheim für jemand, der im Mittleren Westen geboren
und aufgewachsen ist. Er brauchte die Nähe von Familie und Freunden als
Unterstützung.
Wie es jetzt steht,
hat sich Brocks Leben durch die Ereignisse des 17. und 18. Januar tiefgreifend
und für immer geändert. Er wird nie wieder dieses sorglose Selbst mit seiner
gutmütigen Persönlichkeit und diesem einladenden Lächeln haben. Jede wache
Minute ist für ihn erfüllt mit Sorge, Angst, Furcht und Depression. Man kann es
an seinem Gesicht sehen, in der Art, wie er geht, seiner schwachen Stimme und
seinem Appetitmangel. Brock liebte immer bestimmte Gerichte und ist selbst ein
guter Koch. Ich war immer darum bemüht, ihm ein großes Ribeye Steak zum Grillen
oder seinen Lieblingsimbiss zu besorgen. Ich musste stets meine
Lieblings-Brezeln oder Chips verstecken, da ich wusste, sie würden nicht lange
herumliegen, wenn Brock nach einem langen Schwimmtraining heimkam. Jetzt isst
er kaum irgendetwas und das nur, um zu existieren.
Diese Verurteilungen
haben ihn und unsere Familie in vieler Hinsicht erschüttert und zerbrochen.
Sein Leben wird nie das sein, von dem er geträumt und für das er so hart
gearbeitet hat. Das ist ein gesalzener Preis für 20 Minuten Action in seinem
mehr als zwanzigjährigen Leben. Die Tatsache, dass er nun für den Rest seines
Lebens als Sexualtäter registriert ist, ändert für immer, wo er leben,
hinkommen und arbeiten, wie er mit Menschen und Organisationen zusammenwirken
kann.
Ich weiß als Vater,
dass Einsperren nicht die passende Strafe für Brock ist. Er hat keine
kriminelle Vergangenheit und war nie gewalttätig zu irgendjemand,
einschließlich seiner Taten in der Nacht vom 17. zum 18. Januar 2015. Er kann
so viele positive Dinge für die Gesellschaft beitragen und ist völlig damit beschäftigt,
andere Studenten im College-Alter über die Gefahren von Alkoholkonsum und
Promiskuität aufzuklären.
Wenn Menschen wie
Brock andere auf den auf den Colleges unterrichten, dann kann die Gesellschaft
damit beginnen, den Teufelskreis von Komasaufen und seinen unglückseligen
Folgen zu durchbrechen. Bewährung ist in dieser Situation die beste Antwort für
Brock und erlaubt es ihm, der Gemeinschaft netto und in positiver Weise etwas
zurückzugeben.
Mit respektvoller Hochachtung
Dan A. Turner
Die Tatsachen:
Der
damals 19-jährige Brock Turner hatte auf der Party einer Studentenverbindung
eine junge Frau kennengelernt. Als diese stark betrunken und bewusstlos war,
vergewaltigte er sie. Auch der Täter war alkoholisiert. Er wurde von zwei
anderen Studenten in flagranti ertappt und der Polizei übergeben.
Er
behauptete zunächst, die Frau nicht zu kennen. Später war seine Version, sie
sei mit dem Sex einverstanden gewesen.
Vor
Gericht wurde Brock Turner schuldig gesprochen. Der Staatsanwalt forderte 6 Jahre
Haft. Der Richter, selbst ein ehemaliger Absolvent der Stanford University, verurteilte
ihn lediglich zu 6 Monaten Gefängnis mit der Aussicht auf Bewährung nach der
Hälfte der Haftdauer. Von der Universität wurde er ausgeschlossen.
Der
Prozess erregte in den USA großes Aufsehen. In einer Online-Petition forderten
800000 Unterzeichner die Absetzung des Richters.
Mein Kommentar:
Der
obige Brief des Vaters von Turner hatte also durchaus Erfolg. Für mich ist er
einer der gruseligsten Texte, die ich je gelesen habe. Er beschreibt, wie man
solche Menschen züchtet: Von klein auf musste der Sohn verstiegenste
Erwartungen von Papi erfüllen und hatte keine Chance auf seine
eigenverantwortliche Entwicklung. Als die „Fernsteuerung“ dann für ein paar
Monate aussetzte, kam es zur Katastrophe. Herr Turner senior wurde für sein
Schreiben öffentlich stark angegriffen. Er entschuldigte sich mit einem typisch
männlichen Argument: Man habe ihn missverstanden…
Die
Partys der Studentenverbindungen werden inzwischen auch von diesen selbst als
Problem erkannt: Man kommt dort auch unter der legalen Grenze von 21 Jahren an
Alkohol. Jede fünfte Studentin gibt an, an der Uni schon einmal sexuelle Gewalt
erfahren zu haben.
Vom
Opfer ist in dem Brief des Vaters nicht direkt die Rede. Vor Gericht las die
junge Frau ein Schreiben an den Täter vor, das es auch in deutscher Übersetzung
gibt (siehe Quellen). Unter anderem heißt es da:
„Ich wurde
malträtiert mit komponierten, gezielten Fragen, die mein Privatleben sezierten;
Liebe, Leben, Vergangenheit, Familienleben, dumme Fragen, die triviale Details
aus meinem Leben aufwarfen, um eine Entschuldigung für diesen Typen zu finden,
der mich halbnackt ausgezogen hatte, bevor er sich für meinen Namen
interessierte. Nach einem körperlichen Missbrauch wurde ich mit Fragen
missbraucht, die designt waren, um mich zu attackieren, um zu sagen, seht, ihre
Fakten stimmen nicht überein, sie spinnt, sie ist praktisch eine Alkoholikerin,
sie wollte vielleicht abgeschleppt werden, er ist ein Athlet, richtig, sie
waren beide betrunken, was auch immer, das Spital-Zeug, an das sie sich
erinnert, ist nach dem Vorfall, warum sollte man es in Betracht ziehen, für
Brock steht viel auf dem Spiel, es ist für ihn eine richtig schwere Zeit. (…)
Und zu guter Letzt,
an alle Mädchen überall, ich bin an eurer Seite. In den Nächten, wenn ihr euch
alleine fühlt, bin ich mit euch. Wenn die Leute an euch zweifeln oder euch
zurückweisen, bin ich mit euch. Ich habe jeden Tag gekämpft für euch und ich
werde nie aufhören für euch zu kämpfen, ich glaube euch. Wie die Autorin Anne
Lamott einmal geschrieben hat: «Leuchttürme rennen nicht über die ganze Insel,
um nach Booten Ausschau zu halten, die es zu retten gilt. Sie stehen einfach da
und leuchten.»
Obwohl ich nicht
jedes Boot retten kann, hoffe ich, dass ich euch ein bisschen Licht spenden
kann, indem ich jetzt hier spreche. Ein kleines Zeichen, damit ihr wisst, dass
man euch nicht zum Schweigen bringen kann, eine kleine Befriedigung, dass etwas
Gerechtigkeit geschehen ist und ein klein wenig Sicherheit, dass wir ein
Schrittchen vorwärtskommen. Und das große, wirklich große Signal, dass ihr
wichtig seid, nicht in Frage gestellt werden dürft, dass ihr unberührbar seid,
dass ihr schön seid, dass ihr zu wertschätzen und zu respektieren seid und zwar
vollkommen und jede Minute des Tages. Ihr seid kraftvoll und niemand kann euch
das wegnehmen.
An all die Mädchen
überall: Ich bin mit euch. Vielen Dank.“
Quellen:
http://www.watson.ch/International/watson-Leser%20empfehlen/857792001-%C2%ABDu-kennst-mich-nicht--aber-du-warst-in-mir-drin%C2%BB-%E2%80%93-Ein-Lesebefehl-f%C3%BCr-alle-jungen-M%C3%A4nner
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