Montag, 1. August 2016

Vom Ritt auf der Salami



Wenn du merkst, dass du auf einem toten Schwein reitest, steig ab.“
(Gerhard Riedl: „Der bitterböse Lehrer-Retter“)

Zu Beginn der Sommerferien (ein gut gewählter Termin für brisante Bildungsnachrichten) ist es in Bayern wohl amtlich: Die Gymnasien dürfen, so sie es wollen, ab 2018 wieder zur neunjährigen Form (G 9) zurückkehren – oder bei hinreichender Schulgröße beide Varianten (also G 8 und G 9) nebeneinander anbieten.

Dies ist wohl das vorläufige Ende eines unauffälligen Rückzugs, seitdem man den Fünftklässlern 2004 während des laufenden Schuljahrs mitgeteilt hatte, sie befänden sich nunmehr im G 8.

Die Qualität dieses bildungspolitischen Amoklaufs war damals allen Fachleuten (ausgenommen also Ministerpräsident, Kultusministerin, Kabinett und Abgeordneten der Regierungspartei) klar. Selbst mit Nachmittagsunterricht sowie der x-ten „Entrümpelung“ der Lehrpläne konnte man den Verlust eines ganzen Schuljahres selbstredend nicht ausgleichen. Prompt fielen beim ersten G 8-Abitur auch doppelt so viele Kandidaten durch wie vorher – trotz heftigster Einflussnahme des Kultusministeriums auf die Benotung.

Nachdem die beiden damaligen Haupt-Entscheidungsträger in die Europapolitik entsorgt worden waren, begann die millimeterweise salamitaktische Abkehr der nunmehr Verantwortlichen mit semantischem Gedudel wie „Pilotprojekt Mittelstufe Plus“ – mit eindeutigem Ergebnis: An den 47 teilnehmenden Gymnasien entschieden sich zwei Drittel der Schüler für das verkappte G 9.

2011 führte ich noch einen Leistungskurs zum letzten G 9-Abitur und ging dann selber in den vorzeitigen Ruhestand. In meinem 2012 erschienenen Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“ gab ich zu dem Thema Folgendes – hier leicht gekürzt – zu  Protokoll:

Von der Bildung zur Ausbildung: das G 8

Definition: Das achtjährige Gymnasium ist der Versuch, den Stein der Weisen durch das Vertrocknen von weißer Salbe herzustellen.

Vorher gefragt hat unser damaliger Ministerpräsident wohl nicht mal die Chefin des Kultusressorts, geschweige denn uns Lehrer – stattdessen wurde diese „Bonsai-Schulform“ autokratisch (sozusagen zwischen zwei „Ähs“) dekretiert. Freilich fehlte die einschlägige Werbung nicht: Trotz zugegebener Sparzwänge werde das amputierte Gymnasium durch den Abwurf von einigem toten Wissensballast viel leistungsfähiger, effektiver und erfolgreicher. Mit dem Rückenwind des Trends zur
Ganztagsschule schürte man die Erwartung, den somit fehlenden Stoff eines ganzen Jahres dann eben via Nachmittagsunterricht sowie „Intensivierungsstunden“ (eine Art kostenloser Nachhilfe) in die Schüler zu stopfen und deren Anwesenheit somit Eltern, Jugendtrainern und Musikschullehrern bis zum Einbruch der Dämmerung zu ersparen. Auch das bisherige Kollegstufensystem planierte man reformtauglich über den Ersatz der ehemaligen Leistungskurse durch zwei „Seminarfächer“, in
denen die früheren Inhalte weitgehend durch geschmeidige Formen wie Präsentationen, Portfolios, Gruppenreferate, Wissenschafts-Mimikry und das Üben von Bewerbungsschreiben ersetzt wurden.

Kurz vor dem jeweiligen Schuljahresbeginn erschienen mit heißer Nadel zusammengeklöppelte neue Lehrpläne, in denen Wichtiges gestrichen war, um ein Minimum zu retten (und die teilweise in einer weiteren Kürzungsaktion nochmals „entschärft“ werden mussten). Doch einen „Niveauverlust“, so das gebetsmühlenartig wiederholte Mantra, werde es nicht geben… Vielleicht hätte man den Verantwortlichen einmal erklären sollen, dass es sich bei „Niveau“ nicht um eine Gesichtscreme handelt…

Die wenigsten Insider waren überrascht, dass natürlich genau dieser Verlust
eingetreten ist: Das (bereits vorher nicht atemberaubend hohe) Wissenslevel ist deutlich abgesunken – gerade für mich als Naturwissenschaftler angesichts der rasanten Fortschritte in diesem Bereich einfach skandalös! Wenn ich einmal vergleiche, was ich im Studium beispielsweise in Genetik oder Biochemie lernte und wie viel bis heute dazugekommen ist, müsste man eher über die Verlängerung des Gymnasiums auf zehn Jahre ernsthaft diskutieren.

Übrigens kenne ich bisher kaum einen Kollegen, welcher aus „Verantwortung fürs Ganze“ auf die früher verlangten Inhalte völlig verzichtete – mit der Folge, dass die Schüler in kürzerer Zeit relativ mehr Stoff „hineingedrückt“ bekommen!

Und die Reaktionen von Beteiligten und Öffentlichkeit? Pflichtgemäße Proteste von Eltern- und Lehrerverbänden, bald aber schon abgelöst durch Statements in Richtung „Wir müssen die neue Herausforderung annehmen“. Am hartnäckigsten blieben noch die betroffenen Familien, in denen Elfjährige nun zur gleichen Uhrzeit von der Arbeit nach Hause kamen wie ihre berufstätigen Väter (die allerdings dann nicht noch Hausaufgaben machen mussten…). Ebenfalls bis heute sauer sind Vereine, Jugendorchester und ähnliche Einrichtungen, bei denen die Schüler früher ihre nun nicht mehr vorhandene Freizeit verbrachten.

Ein Volksbegehren scheiterte (im Unterschied zur anscheinend viel existenzielleren Frage des totalen Rauchverbots) schon in der Anlaufphase. Offenbar überwog die (nie offen ausgesprochene) Erwartung, ein äußerst erstrebenswertes Papier, nämlich das Abiturzeugnis, in Zukunft „billiger“ zu kriegen… Und die Kollegen? Nach etlichem Aufbegehren (und wohl noch mehr „innerer Emigration“) tun sie das, wofür sie als Teil der Exekutive bezahlt werden: Sie führen das Vorgeschriebene aus.

Wie ich allerdings schon 2004 in einer Glosse festgestellt habe, können wir Lehrer uns von einer Mitschuld an dieser Entwicklung nicht freisprechen: „War uns eigentlich irgendein Anlass zu nichtig, Unterrichtszeit entfallen zu lassen? Keine Vertretung in Randstunden und ab der 11. Klasse, flächendeckende Spekulatiusorgien zu Weihnachten, Eiersuche vor Ostern, unterrichtsfrei wegen Abistreich! Dazu noch einwöchige Freizeitgestaltung vor Schuljahresende, welches für den 13. Jahrgang um Monate vorverlegt wurde – eigentlich immer noch wegen der Einberufungstermine anno 1970 mit eineinhalb Jahren Soldatenzeit (und 21 Monaten Zivildienst) oder eher wegen der Abi-Besäufnistour an den Ballermann? Musste das nicht die Begehrlichkeit sparwütiger Politiker wecken, die angesichts der Ebbe in den Kassen händeringend nach Staatsbetrieben fahndeten, in denen bei relativ viel Gaudi verhältnismäßig wenig herauszukommen schien, was sich zum Glück nicht mal in Tonnen oder Stückzahlen pro Arbeitstag festmachen lässt?“

Vollends zum Treppenwitz wird das Argument, man müsse die „überlangen Ausbildungszeiten“ verringern, jetzt durch den Wegfall des Wehrdienstes. Nun gut, wie schon in anderen europäischen Ländern mit Bonsai-Gymnasien, werden die Universitäten diese Lücke ausfüllen müssen, um per „Vorsemester“ die Studienanfänger auf das einstige Niveau zu hieven. Selbst wenn hierdurch kein verschultes Paukstudium entstünde und die Qualität der früheren Abschlüsse erhalten bliebe (aus meiner Sicht Konjunktive), ändert sich dennoch ein zentraler Punkt: Die Spezialisierung setzt früher ein, die Breite der Allgemeinbildung nimmt ab; unverzichtbar ist vornehmlich das, was die späteren Arbeitgeber brauchen: beispielsweise Physiker – ob die nun Dürrenmatts „Physiker“ gelesen haben oder nicht… Die Ausbildung bewirkt so ein Aus für die Bildung – und die stirbt, wie die Freiheit, nicht auf einmal, sondern millimeterweise.

Ich habe damals erleben dürfen, wie mein einstiger Chef zwar im ersten Affekt bei „Anti-G 8-Demonstrationen“ mitlief, Wochen danach jedoch bei einer Schulfeier bereits eine Anpassungsrede à la „Wir müssen die Herausforderung annehmen“ hielt. Den letzten G 9-Abiturienten beschied er, sie bekämen auf diese Weise „das Stigma eines Auslaufmodells angehängt“, während er den ersten G 8-Absolventen attestierte: „Sie waren schneller und besser“.

Das Statement der bayerischen Direktorenvereinigung zur jetzigen Wende spricht Bände: „Was wir befürchtet haben, ist eingetreten.“ Na gut, sie werden sich alsbald wieder anpassen…

War die Umsetzung des galoppierenden Wahnsinns an den bayerischen Gymnasien vor zwölf Jahren unvermeidlich? Ich bin heute noch fest davon überzeugt: Hätten vor allem die leitenden Herrschaften an den Schulen über Hintern in der Hose verfügt, wäre das G 8 längst wieder Geschichte – mit ähnlicher Halbwertszeit wie gewisse Ministerpräsidenten zur damaligen Zeit.

So hat man aber das Meisterstück hingekriegt, von 2004 bis 2018 eine halbe Schülergeneration um ihre Bildungschancen (sowie eine förderliche Freizeitgestaltung) betrogen zu haben – und das nur, weil sich so viele Herrschaften nicht in der Lage sahen, etwas, was aussieht und riecht wie Scheiße, auch so zu bezeichnen!

Samstag, 4. Juni 2016

Deutsch-Abitur reloaded

Wenn es dem Esel zu wohl wird... versucht er sich - nach dem eigenen Abitur 1970 - noch einmal an einer solchen Arbeit.

So habe ich ein Thema der heurigen bayerischen Reifeprüfung bearbeitet - unter Beachtung der Arbeitszeit von fünf Stunden und ohne Kenntnis des Erwartungshorizonts. Auch eine Mithilfe meiner Ehefrau (Gymnasiallehrerin für Deutsch und Französisch) fand nicht statt!

Aufgabe V / Variante 1:

Erörtern Sie die Frage, ob das Lesen im Zeitalter digitaler Medien an Bedeutung verliert! Nutzen Sie dazu die folgenden Materialien und beziehen Sie eigene Erfahrung und eigenes Wissen ein!

Gliederung

A.   Einleitung
Kurt Tucholsky auf der Suche nach einem Wort: „Was tun die Birkenblätter?“

B.   Hauptteil
B 1    Das Lesen im Informationszeitalter: dessen Stellenwert nach Umfragen und sein möglicher Bedeutungswandel

B 2
B 2.1 „Generation Whatsapp“: Sprachverarmung und Internetsucht bei Jugendlichen
B 2.2 Das Internet: eine Bilderwelt
B 2.3 Scannen statt Lesen

B 3
B 3.1 Literatur – schon immer ein Refugium für Minderheiten?
B 3.2 Die Links und der Vorteil der Vernetzung
B 3.3 Das Internet als schier unendliche Quelle von Texten

B 4    Das Lesen im digitalen Zeitalter in gewandelter, aber nicht geringerer Bedeutung

C.   Schluss
Bloggen – zurück zum Lesen?

A
Der Satiriker Kurt Tucholsky zählt zu den Autoren, welche ihr geradezu erotisches Verhältnis zur Sprache immer wieder bekannten. In seinem Artikel „Mir fehlt ein Wort“ beklagt er, nicht ausdrücken zu können, was die Birkenblätter tun: „zittern“, „flirren“, „rieseln“? Er werde dahingegangen sein, ohne es gesagt zu haben. Der politische Journalist verbindet seine Suche mit einem heftigen Angriff gegen jene, die das Ihre „dahinlabern“ – sie seien verlacht, für und für! Die Sprache sieht er als Waffe, die man „scharf zu halten“ habe.

Das war vor zirka neunzig Jahren. Was hätte Tucholsky wohl heute zu den 140 Zeichen bei Twitter, den maximal 160 einer SMS oder dem Kürzel für eine Verabredung „CU2“ („see you too“) geschrieben? Wohl wenig Freundliches!

Werden wir, wie der Karikaturist Scharwel andeutet, immer mehr zu den bekannten drei Affen, die zwar noch sehen, hören und sprechen können, aber nicht mehr lesen wollen, da es ja Hörbücher, Filme oder Handys gibt? (Mat. 1)

B 1
Gehört heute der klassische Buchleser zu einer aussterbenden Spezies? Dem Kulturpessimismus, welcher ja bereits im Aufsatz Tucholskys anklingt, entsprechen die harten Fakten nicht unbedingt. Nach einer Marktanalyse (Mat. 6) sind über 70 Prozent der Deutschen an Büchern interessiert (Z. 1), 11,7 Millionen lesen täglich Bücher, mehrmals pro Woche fast 15 Millionen (Z. 3 und 5) – und dabei hat das klassische Printbuch immer noch die Nase vorn: Die Zahl der Buchkäufer (aktuell 41,59 Millionen) scheint gegenüber dem Vorjahr sogar leicht gestiegen zu sein (Z. 16).

In einer Umfrage assoziiert eine Mehrheit mit dem Lesen auch heute positive Begriffe wie „Freizeit“, „Entspannung“, „Spaß / Unterhaltung“ sowie Spannung – an erster Stelle steht, sicher nicht zu Unrecht, das Bedürfnis nach Information (Mat. 7).

Freilich ist hier nach den unterschiedlichen Zwecken und Bedeutungen des Lesens zu fragen – vom Informationsaustausch per Brief oder SMS über Ausbildungssektor und Beruf bis hin zur Beschäftigung mit trivialer oder gar anspruchsvoller Literatur ergibt sich da ein weites und inhomogenes Feld. Schaffen digitale Medien eine Trendwende mit negativen Folgen wie Sprachverarmung, Reduktion auf Zeichen sowie Kürzel und somit der Unfähigkeit, sich auf größere Zusammenhänge einzulassen, die Bedeutung eines Textes zu durchdringen, gar einen Roman von vorne bis hinten zu lesen?

B 2.1
Das Bild junger Menschen, welche – das Smartphone in der Hand und den Knopf im Ohr – wirklichkeitsentrückt durch die Straßen laufen, ist geeignet, den größten Kulturoptimisten zu verunsichern. Der Kabarettist Werner Schneyder nannte dies einmal „second hand life“. Durch die Zeichenbegrenzung sozialer Medien und vor allem den Zwang, alles in eine oft winzige Tastatur zu tippen, entwickelt sich die Begriffssprache als höchste kommunikative Errungenschaft der Evolution anscheinend zurück zu einer Zeichen- und Symbolsprache!

Ein geistreicher Witz reduziert sich auf „lol“ („laughing out loudly“), in der Steigerung vielleicht noch „rofl“ („rolling on the floor laughing“) – mehr Differenzierungsmöglichkeiten sind nicht vorgesehen, Groß- und Kleinschreibung zudem lästig! Weiterhin kann man die Bedeutung banaler Sprüche ja durch „Smileys“ (Gesichtsattrappen, welche schon ein Säugling versteht) erläutern oder Gefühle, welche früher ellenlange Liebesbriefe umschrieben, mittels „Emoticons“ aus einem reichlich vorprogrammierten Fundus in seine Textfragmente kopieren.

Die Fähigkeit, längere Texte sinnerfassend zu lesen, gar eine Botschaft zwischen den Zeilen zu verstehen, geht so natürlich, gerade bei jungen Menschen, zurück.

B 2.2
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ – diese grundsätzlich sicher richtige Aussage wurde spätestens seit den 1930-er Jahren durch die Comics pervertiert, indem eine ausdrucksstarke Sammlung verbaler Grundformen wie „ächz, stöhn“ die Botschaft der Zeichnungen nur noch lautmäßig verstärkte (siehe den „Erikativ“ der deutschen Micky Maus-Übersetzerin Dr. Erika Fuchs).

Diesen Trend hat das Internet noch kräftig verstärkt: In den sozialen Medien werden vorwiegend Bilder gepostet – der zugehörige Text (wenn überhaupt vorhanden) stellt bestenfalls eine kurze Komponente dar, welche die optische Aussage erklärt oder verstärkt. Die Möglichkeit des „Teilens“ bewirkt zudem, dass eigene geistige Leistungen – auch sprachliche – keine Voraussetzung mehr sind, um an der inflationären Kurz-Kommunikation teilzunehmen. Und wenn einem gar nichts mehr einfällt, postet er das zuletzt Gegessene („foodie“) oder das Foto seiner Hauskatze – in Bloggerkreisen zu Recht als „cat content“ verspottet. Aus der sprachlichen Verarmung resultiert logischerweise die Trivialisierung von Inhalten.

Man kann den Journalisten Markus Günther durchaus verstehen, wenn er das „Ende der Schriftkultur“ (Mat. 2, Z. 12) prophezeit, wo doch schon heute Smartphone-Programme Sprache in Schrift (und umgekehrt) übersetzen und Gebrauchsanleitungen per Video daherkommen (Z. 18-21). Sicherlich sind audiovisuelle Medien in etlichen Bereichen den schriftlichen überlegen (Z. 37-38). Wenn Günther dagegen von der bisherigen „fast vollständigen Alphabetisierung der Gesellschaft“ schreibt (Z. 8), sollte man bedenken, dass sogar in unserem Land die „Dunkelziffer“ der totalen oder teilweisen Analphabeten bei einigen Millionen liegen dürfte!

B 2.3
Auf der sehr interessanten Webseite „Affenblog“ (mit vielen guten Ideen, mit Blogs Geld zu verdienen) trifft der Autor Walter Epp eine bemerkenswerte Feststellung: Im Internet würde meist nicht mehr gelesen, sondern „gescannt“: Die Interessenten überflögen Texte nur noch anhand von Stichpunkten („bullet points“) oder Zwischenüberschriften und klickten so einen Artikel nach weniger als einer Minute wieder weg.

Ähnlich äußert sich der Bibliotheksdirektor Klaus Ceynowa (Mat. 5): Die „Dominanz des Textes und mit ihm die traditionelle Figur des Lesers“ verschwinde, welcher „Zeile für Zeile und Seite für Seite einem Argumentationsgang oder einer ‚Geschichte‘“ folge. (Z. 8-10).

Sehr pessimistisch sieht Konrad Paul Liessmann (Mat. 4) ein Herannahen des Endes der Literatur: Lesen und Schreiben seien mehr als eine Kulturtechnik, nämlich eine Form der „Weltaneignung und Welterzeugung“ (Z. 6-7). Wer Texte lediglich unter pragmatischen Gesichtspunkten sehe, werde nur dann noch lesen, wenn es gar nicht anders gehe (Z. 12), und so die Beschäftigung mit Literatur „als Zumutung empfinden“ (Z. 14).

Womit wir wieder bei Tucholsky wären: Wen interessiert dann noch ein Wort dafür, was die Birkenblätter tun?

B 3.1
Man muss allerdings ehrlicherweise zugeben, dass solche Beschäftigungen noch nie mehrheitsfähig waren: Literatur, gerade in ihrer künstlerisch hochstehenden und anspruchsvollen Variante, musste auch früher hart um Leser kämpfen. Schon in vergangenen Zeiten, teilweise vor der Erfindung des Buchdrucks, arbeiteten Bänkel- und Moritatensänger nicht eben mit elaborierten Texten, und Groschenhefte, Illustrierte sowie Herz-Schmerz-Romane fanden ihr Publikum wesentlich leichter.

Gerade das Internet macht den Zugang zu wertvollem Schrifttum (nebst der Sekundärliteratur) so einfach wie nie zuvor. Millionen von Texten sind nur wenige Mausklicks entfernt. Freilich muss sich auch diese Sparte um Leserlichkeit bemühen! Die ketzerische Frage sei erlaubt, ob der Unwillen, sich beispielsweise auf die Schachtelsätze eines Thomas Mann einzulassen, wirklich auf die digitale Revolution zurückzuführen ist oder nicht doch auf gewisse Manierismen von Autoren…

B 3.2
Der schon erwähnte Klaus Ceynowa (Mat. 5) kommt unter dem Titel „Der Text ist tot. Es lebe das Wissen!“ zu optimistischen Aussagen. Er sieht den Leser im Informationszeitalter als „Figur des sich in vernetzten Wissensräumen agil bewegenden Entdeckers“ (Z. 12-13). Dies kann man tatsächlich als neue Qualität des Lesens bezeichnen:

Wollte man früher einen Begriff oder eine Tatsache in einem Text genauer hinterfragen, war man auf Lexika oder die mühsame Beschaffung von Sekundärliteratur angewiesen. Heute sind solche Stellen meist „verlinkt“ – es genügt also ein Mausklick, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. Inklusive Plattformen wie „Wikipedia“ wird das Internet so tatsächlich zu „einem Netz, das niemals reißt“ (Z. 15).

Die Möglichkeit, an den Weltschatz an Informationen zu kommen und fast beliebige Querbezüge zu erforschen, bedeutet einen revolutionären Fortschritt, welcher dem Lesen eine neue Qualität geben kann!

B 3.3
Das Internet stellt vor allem quantitativ eine gigantische Zunahme der Informationen dar. Pro Minute werden nicht nur fast fünfzig Stunden Videos auf „Youtube“ hochgeladen und hunderttausend Tweets auf „Twitter“ verschickt, sondern auch mehrere hundert Webseiten neu hochgeladen. Wer Texte – auch solche jenseits von 160 Zeichen-Botschaften – sucht, wird so fündig wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Gutenbergs Revolution des Buchdrucks, welche ein Lesen auch jenseits von Klostermauern ermöglichte, wird somit erneut auf eine neue, ungeahnte Ebene katapultiert.

Wer lesen möchte, kann dies in Hülle und Fülle tun – und dank des weltweiten Netzes fällt es selbst Diktaturen immer schwerer, ihren Bürgern unwillkommene Informationen vorzuenthalten!

B 4
Die Ängste, welche eine neue Entwicklung bewirkt, sind nicht neu. Rückblickend werden sie meist belächelt wie die Furcht vor der „Eisenbahnkrankheit“, welche im 19. Jahrhundert durch die ersten Dampfloks ausgelöst wurde: Die „rasenden Geschwindigkeiten“ (damals wohl deutlich unter 50 Stundenkilometern) würden Tier und Mensch gesundheitlich schwer schädigen.

Allein das Textangebot, welches das Internet liefert, dürfte nicht zu einem Rückgang der Bedeutung des Lesens führen. Es werden sich allerdings andere Lesemuster einstellen, welche der stärkeren Vernetzung Rechnung tragen und so sicherlich neue Chancen bieten. Auch das „Überfliegen“ von Texten wird eher zunehmen, was aber, je nach konkretem Bezug, nicht nachteilig sein muss und zudem schon beim alten „Printbuch“ existiert. 

Für jeden Fortschritt zahlt man allerdings einen Preis. Das „lineare Lesen“ wird es sicherlich schwerer haben als früher. Doch gerade heute ist die Literatur so breit aufgestellt, dass wohl die Faszination dieser Kunstgattung nicht untergehen wird.

Nicht nur Kinder lieben Geschichten.

C
Das Internet hat ein neues Textmedium hervorgebracht, das immer mehr an Bedeutung gewinnt: das „Weblog“ oder kurz „Blog“ – in seiner Urform eigentlich ein elektronisches Tagebuch.

Auf der schon erwähnten Webseite „Affenblog“ plädiert der Herausgeber engagiert dafür, in den Texten „wertvollen Content“ zu liefern. Nur Beiträge, welche dem Leser einen Nutzen durch detaillierte Darlegungen brächten, würden genauer gelesen, ansonsten höchstens „gescannt“, was dem Blogger materiell keinen Gewinn (etwa durch Werbung) brächte.

Und was sei die wichtigste Eigenschaft eines Textes, der viel gelesen würde? Er müsse mindestens tausend Wörter lang sein (was einer Lesezeit von zirka sieben Minuten entspricht).

Zu kurze Beiträge würden eher überflogen und dann weggeklickt. Eine in diesem Zusammenhang doch äußerst tröstliche Erkenntnis!

Als Blogger kann ich sie nach meiner Erfahrung nur bestätigen.
Auch das mit den Birkenblättern…

P.S. Dieser Text enthält übrigens 1571 Wörter!

Samstag, 7. Mai 2016

Dämlich, ohne es zu ahnen



Das jüngste Beispiel von vielen, das ich dazu zitieren könnte: Eine Bloggerkollegin veröffentlichte auf einem Facebook-Forum den Link auf einen ihrer Texte. Daraufhin erntete sie den folgenden negativen Kommentar: „Kein guter Blog nach meinem Empfinden.(Auch sprachlich nicht, sorry. ) (…) Ich tanze Tango u.a. deshalb, weil es Regeln gibt, die Muse geben, sich zu entspannen.“

Die Gemeinte sah über die Fehler der Schreiberin hinsichtlich Zeichenabständen und Satzbau bzw. Interpunktion in der Klammer großzügig hinweg, lieferte allerdings die Korrektur: „‚Muße‘ mit scharfem S“.
Ansatzlos fing sie sich damit von einer anderen Kommentatorin die Replik ein: „Quatsch mit Soße“. (Obwohl dies ja dann „Sose“ heißen müsste, wie in einem weiteren Beitrag zu Recht angemerkt wurde…)

(Aktuelle Anmerkung: Inzwischen hat man offenbar diese Diskussion auf der Facebook-Seite "Tango München" gelöscht. Tja, da sucht man sich wohl die Vorbilder in der Türkei, China und Nordkorea...)

Letztlich habe ich diese Grundsituation schon oft erlebt: Man wird von jemandem mit der Einschätzung abgewertet, auf einem Gebiet zu wenig kompetent zu sein. Form und / oder Inhalt der Kritik lassen jedoch den dringenden Verdacht aufkommen, der Betreffende sei bei diesem Thema noch deutlich weniger leistungsfähig.

Ein weiteres, hübsches Erlebnis dieser Art habe ich hier geschildert.
Als mich beim Thema Tango ein Kommentator ziemlich hochnäsig belehrte, unter anderem zum „Balett“, gab ich zu, in diesem Metier kein Experte zu sein, aber wenigstens die korrekte Schreibweise zu kennen. Im Anschluss ging eine „Oberlehrerschelte“ beträchtlichen Ausmaßes über mich nieder.

Auf Einsicht oder wenigstens Humor darf man in diesen Fällen nicht hoffen. In einer ähnlichen Debatte stieß ich schließlich zu meinem Erstaunen auf einen Effekt, der offenbar in der Psychologie längst bekannt ist und mir ein ziemliches Aha-Erlebnis bescherte:  

„Als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet man eine Spielart der kognitiven Verzerrung, nämlich die Tendenz inkompetenter Menschen, das eigene Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen. Der populärwissenschaftliche Begriff geht auf eine Publikation von David Dunning und Justin Kruger aus dem Jahr 1999 zurück.“ (Quelle: Wikipedia)

Die beiden Psychologen wollten testen, wie Studenten der Cornell Universität ihre geistigen Fähigkeiten einschätzten – etwa im Bereich logisches Denken oder Grammatik. Dunning und Kruger ließen die Teilnehmer dazu verschiedene Tests durchlaufen. Das Ergebnis war stets dasselbe: Diejenigen, die besonders schlecht abgeschnitten hatten, schätzten ihren Lernerfolg und sich selbst viel besser ein. Besonders intelligente Studenten hingegen unterschätzten ihre Leistungen regelmäßig.

David Dunning und Justin Kruger formulierten daraufhin einen vierstufigen Effekt, der seitdem ihren Namen trägt. Danach sieht es so aus, dass...

1. inkompetente Menschen regelmäßig ihr eigenes Können überschätzen,
2. gleichzeitig aber nicht in der Lage sind, das Ausmaß ihrer eigenen Inkompetenz zu erkennen,
3. weshalb sie ihre Kompetenz nicht steigern können und
4. die überlegenen Fähigkeiten von anderen immer wieder unterschätzen


Unqualifizierte leiden nicht unter ihrer Unfähigkeit. Im Gegenteil, sie sind sich ihrer vermeintlichen Qualität ohne Anflug von Zweifeln so sicher, dass sie sich ausgesprochen wohl fühlen. Die Forscher vergleichen die Situation der Inkompetenz mit dem Krankheitsbild der Anosognosie:

Nach einem Schlaganfall in ihrer rechten Gehirnhälfte leiden Anosognosie-Patienten an einer Lähmung ihres linken Armes, die ihnen nicht bewusst ist. Wird ihnen ein Glas hingestellt und werden sie aufgefordert, dieses mit der linken Hand anzuheben, können sie diese Anweisung lähmungsbedingt nicht ausführen. Warum dies so ist, werden die betroffenen Patienten nicht zugeben – sie behaupten stattdessen, sie höben den Arm nicht, weil sie dazu zu müde seien oder weil sie die Anweisung nicht gehört oder sie ganz einfach keine Lust hätten usw.

Obwohl Inkompetente unfähig sind, ihre schwachen Leistungen zu erkennen, würden wir erwarten, dass sie beispielsweise im Rahmen ihrer akademischen oder beruflichen Karriere unvermeidbar irgendwann derartig negatives Feedback empfangen, dass ihnen letztlich doch die Augen aufgehen sollten. Dafür, dass dies nicht zwangsläufig geschieht, geben Dunning und Kruger Gründe an:

Der erste liegt in den in unserem sozialen Leben verbreiteten „guten Manieren“: Erwachsene Individuen bekommen im Alltag selten negatives Feedback in Bezug auf ihre Fähigkeiten.

Statt Scheitern mit der eigenen Inkompetenz in Verbindung bringen zu müssen, bietet es sich Inkompetenten an, fehlendes Glück und gerne auch die angeblich fehlende Unterstützung der Mitmenschen für den misslichen Ausgang ihres Handelns verantwortlich machen.

Der letzte Grund liegt in der Unempfänglichkeit für soziale Vergleiche: Es hat sich in der Studie gezeigt, dass Inkompetente nicht in der Lage sind, die grundlegende Form des sozialen Feedbacks zu verarbeiten: den sozialen Vergleich. Dieser erfordert die Fähigkeit, die Ausprägung der eigenen Kompetenz zu erfassen, indem das Verhalten der übrigen Gruppenmitglieder beobachtet und analysiert wird.

Offenbar braucht jemand, um im Feld der Inkompetenz zu „glänzen“, ein gewisses Maß an rudimentärem, vielleicht angelesenem Wissen sowie eine gewisse Laien-Theorie darüber, wie die Dinge in der Realität funktionieren könnten. Kommen noch ein paar rudimentäre Erfahrungen – vielleicht aufgrund von Hören-Sagen – dazu, hat der Inkompetente ausreichend „Futter“, um sich selbst suggerieren zu können, er könnte im betreffenden Feld sachgerecht entscheiden und handeln.

Kompetente überschätzen genauso häufig die Qualifikation der Inkompetenten, wie es diese weniger Qualifizierten in Bezug auf ihre eigenen Fähigkeiten tun. Kompetentere glauben oft, weil ihnen etwas leicht fällt, müsste dies den anderen auch so gehen. Sie erliegen dabei ebenfalls einer grundlegenden Täuschung.

Eine weitere hilfreiche Einsicht für Kompetente liegt darin, einzusehen, dass es sinnlos ist, Inkompetente von ihrer Kompetenz überzeugen oder sie sogar mit ihrer Qualifikation beeindrucken zu wollen. Das kann nicht funktionieren, weil ihre weniger kompetenten Mitmenschen höherwertige Kompetenz nicht wahrnehmen und bewerten können.

Auch im geschäftlichen Bereich kann dies zu Problemen führen: Wie soll man dem Kunden klar machen, dass er eine hohe Qualität geliefert bekommt, wenn er diese nicht einschätzen kann? Man muss ihn sozusagen erst schlau machen, damit er den Wert einer Ware oder Dienstleistung erkennt.


Geplagten Lehrerkollegen zum Trost: Ein schwacher Schüler wird sich tendenziell eher über eine schlechte Note beschweren, während sein weitaus besserer Klassenkamerad staunt, dass er eine unerwartet gute Bewertung erhielt. Und gar erst die Eltern, welche in Ihrer Sprechstunde aufschlagen und so viel mehr von Schule, Pädagogik und umliegenden Dörfern verstehen als Sie – ein klarer Fall von „Dunning-Kruger“! (Ein höherer Kompetenzgrad müsste in solchen Fällen doch zumindest den Verdacht aufkommen lassen, man steige hier zu einer Person in den Ring, die über jahrelange Praxis in diesem Metier verfügt – von der sozialen Intelligenz, dass solche Belehrungen dem Gegenüber eher lächerlich bis anmaßend erscheinen, ganz zu schweigen…).

Mir sind etliche Warnsignale eingefallen, welche „Dunning-Kruger-Situationen“ ankündigen:

1.    Häufig hat man den Eindruck, der Betreffende habe sich zum gerade aktuellen Thema einige Textbausteine zurechtgelegt, die in leichten Variationen wiederholt werden. Das Eingehen auf Details oder spezifische Fragestellungen fällt ihm somit schwer.
2.    Darlegungen zu Widersprüchen der eigenen Position werden ausgeblendet (manchmal hat man tatsächlich – siehe Anosognosie – den Eindruck, der andere könne sie gar nicht hören bzw. lesen). Lässt sich eine Schwäche gar nicht mehr bemänteln, kommt mit apodiktischer Sicherheit der berühmte „Oberlehrer-Vorwurf.
3.    Im Gegenzug wird man mit einer Unmenge von – meist hergesucht wirkenden – Fragen bombardiert („dann erklären Sie mir doch mal…“).
4.    Häufig hört man das Argument, der spezielle Sachverhalt sei ganz einfach und die Lösung nahe, wenn man den Sprecher nur machen ließe.
5.    Nicht wegzudiskutierende eigene Misserfolge werden oft mit Verschwörungstheorien erklärt: Nur die böse Umwelt sei schuld, dass man sein überlegenes Konzept nicht verwirklichen konnte. („Meine Tochter hätte es ja gekonnt, aber sie hat Angst vor Ihnen!“)
6.    Die eigene Qualifikation wird meist ungefragt und deutlich übersteigert betont (beim Tango beispielsweise durch eine lange Liste der – natürlich argentinischen – Tanzlehrer dieser Person). Komplettiert wird dies oft mit Vorwürfen, der andere sei arrogant oder geltungssüchtig.
7.    Hinweisen auf eigene Fehler oder Schwächen wird äußerst aggressiv begegnet (im schulischen Metier kommt dann gerne die Drohung mit dem Rechtsanwalt).
8.    Das Recht und die Fähigkeit des Diskussionspartners, zu anderen Ansichten zu gelangen, werden negiert. Zunächst wird dieser „aufgeklärt“ – und sollte er dennoch auf der eigenen Meinung beharren, kann das nur an seiner Dummheit oder Bösartigkeit liegen.
9.    Stets stellen „Dunning-Kruger-Kandidaten“ ihren Standpunkt als Mainstream dar: Die gesamte Welt teile ihre Auffassung, nur der Angesprochene nicht („die ganze Klasse kann es bezeugen, dass Sie meinen Sohn heruntergemacht haben“).
10.  Bei der Wahl seiner Argumente greift man wahllos in jede erreichbare Schublade (bei der Debatte um das richtige Auffordern beim Tango durfte ich mir beispielsweise schon anhören, dass keine Frau mit mir tanzen wolle und mein Körpergeruch unerträglich sei – und das von Menschen, die mich überhaupt nicht persönlich kennen…).

Sollten Sie also wieder einmal mit diesem psychologischen Phänomen konfrontiert werden: Nur nicht aufregen! Ihr Gegenüber kann weder seine noch Ihre Kompetenz richtig einschätzen, da ist nix zu machen!

Gar nichts? Na ja – vielleicht ein bisschen veralbern…   

Literatur: Justin Kruger, David Dunning: Unskilled and unaware of it. How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. In: Journal of Personality and Social Psychology. 77, Nr. 6, 1999, S. 1121–1134

P.S. Der neueste Dunning-Kruger" (auf FB gestern Abend):
„mit selbstdarstellung meine ich nicht das tanzen von gerhard riedl sondern die blogbeiträge - das gekrümmte gehüpfe nehme ich nicht wirklich als tango argentino wahr"
O mei'...