Samstag, 2. Oktober 2021

Vor-Bildung

 

In der Bildung wird echt alle paar Jahre das Rad neu erfunden – und man muss froh sein, wenn es nicht viereckig wird!

Mit großem Vergnügen las ich daher gestern einen aktuellen Artikel im SPIEGEL, der wie folgt überschrieben war:

„Schüler orientieren sich stärker an Lehrern als angenommen“

Untertitel: „Lehrkräfte sollten auch in Fächern wie Biologie und Geschichte darauf achten, dass sich Schüler gut ausdrücken. Denn sie orientieren sich beim Erwerb der Sprache viel mehr an den Pädagogen als bislang angenommen.“

Herausgefunden hat diese sensationelle Tatsache Helmuth Feilke, Ordinarius für Germanistische Linguistik und Sprachdidaktik an der Universität Gießen – und weil man auf sowas unmöglich allein kommt, haben noch Prof. Dr. Ursula Bredel (Uni Hildesheim) und ein Team weiterer Sprachwissenschaftler teilgenommen. Die Ergebnisse von zehn Studien veröffentlichte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gemeinsam mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Mächtig viel akademisches Holz also vor der Hütte…

Bei der Untersuchung der Sprachkompetenz stellte sich überraschenderweise heraus, dass Fünftklässler an Gymnasien wesentlich mehr Attribute (35 pro 100 Substantive) verwenden als Neuntklässler an Integrierten Gesamtschulen (25 pro 100 Substantive) – wobei der SPIEGEL seinen Lesern vorsichtshalber noch erklärt, was ein Attribut ist. All das wundert uns in Bayern nicht.

Lehrkräfte müssten sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein, so Feilke: „Eigentlich dachte man immer, die Schüler würden sich sprachlich bewusst von Erwachsenen abgrenzen wollen. Doch der Sprachgebrauch der Lehrkräfte hat einen großen Einfluss auf den Sprachgebrauch der Schüler.“ 

Darauf muss man erstmal kommen – dass es so etwas wie eine „Muttersprache“ gibt, welche die Kinder und Jugendlichen natürlich von ihren nahen erwachsenen Bezugspersonen lernen. „Vatersprache“ hingegen ist nicht mehr zeitgemäß, da die Männer sich inzwischen weitgehend aus der Erziehung verabschiedet haben…   

So erklärt uns Projektleiterin Ursula Bredel, der Spracherwerb gelinge besonders gut, wenn die Voraussetzungen in der Familie gegeben seien, wenn die Schule herausfordernde Aufgaben stelle und die Lehrkräfte als gute Sprachmodelle dienten. Der Aufholbedarf sei da leider noch groß.

https://www.uni-giessen.de/fbz/fb05/germanistik/absprache/sprachdidaktik

https://www.spiegel.de/panorama/bildung/sprachkompetenz-schueler-orientieren-sich-staerker-an-lehrern-als-bislang-angenommen-a-ef888282-8e74-4682-9ee6-26a3cbaa4fac

Diese Erfahrung durfte ich unter anderem machen, wenn ich die Prüfungsarbeiten von Kollegen durchsehen musste: In Fächern wie Chemie oder Biologie wurden sprachliche Mängel wenig markiert und schon gar nicht bewertet. Da ich es anders handhabte, hatte ich regelmäßig Elternbeschwerden am Hals – in der Tonlage: „Bewerten Sie auch Rechtschreibfehler??“

Nein – aber durchaus die Fähigkeit, einen fachlichen Zusammenhang sprachlich zutreffend zu formulieren! Oder einen Fachbegriff korrekt zu schreiben. Das war während meiner Dienstzeit bei den Kolleginnen und Kollegen nie Allgemeingut, sondern eher ein Außenseiter-Standpunkt.

Ich habe mich in meiner Haltung allerdings nie beirren lassen und sehe nun mit Freude, dass man im Elfenbeinturm neue Erkenntnisse gewinnt. In meinem Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“ habe ich meine Ansichten schon 2012 niedergeschrieben:

Bei einem anderen Aspekt sollten Sie sich allerdings einige Mühe geben: In meiner Referendarzeit lernte ich einen Satz, der damals wohl in der Schulordnung stand (UND DEN ICH SCHON LANGE NICHT MEHR GEHÖRT HABE): 

„IM MITTELPUNKT DES UNTERRICHTS STEHT DIE PFLEGE DER DEUTSCHEN SPRACHE.“

Meinem festen Eindruck nach hat die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, sich korrekt und vor allem differenziert auszudrücken, dramatisch nachgelassen! Dafür gibt es sicherlich zahlreiche Gründe – ganz bestimmt aber auch den, dass die Schule hier viel zu wenig gegensteuert. Es ist eine dienstliche Alltagserfahrung, dass Kollegen Verstöße gegen Rechtschreibung, Interpunktion und Grammatik reihenweise unkorrigiert durchgehen lassen und Formulierungen positiv bewerten, welche von geradezu jämmerlicher Unbeholfenheit zeugen – getreu dem Motto:

„ICH BEWERTE HIER BIOLOGIE UND NICHT DEUTSCH!“

Dies ist natürlich grober Unfug, da ein fachlicher Inhalt kaum ohne sprachliche Fähigkeiten adäquat dargestellt werden kann.

Daher bildet eine Bionote indirekt auch eine Leistungsbewertung im Deutschen – und so muss es auch sein! Ob Sie nun die Muttersprache, Sport oder Handarbeiten unterrichten: Am Ringen um eine gute Ausdrucksfähigkeit müssen Sie sich beteiligen, vor allem durch das eigene Beispiel (Unterrichtssprache, Tafelanschriften, Hefteinträge bzw. Arbeitsblätter), aber auch durch Verbesserung von Schüleräußerungen, ob nun mündlich oder schriftlich. Wenn ich mir die via Schüler- oder Abiturzeitungen kolportierten kollegialen Sprüche anschaue, werde ich den Verdacht nicht los, man wolle sich durch Nachahmen der Jugendsprache seinen Schützlingen emotional nähern.

BERÜCKSICHTIGT EINE LEHRKRAFT IN IHRER BEWERTUNG AUCH SPRACHLICHE MÄNGEL, SIEHT SIE SICH GELEGENTLICH MIT WÜTENDEN ELTERNBESCHWERDEN KONFRONTIERT. MAN DÜRFE DOCH IN BIOLOGIE KEINE „RECHTSCHREIBFEHLER“ BENOTEN UND MÜSSE DAHER BEGRIFFE BEPUNKTEN WIE „GREISSAAL“ (WOHL FÜR ÄLTERE MÜTTER), „RÜCKENRAD“ (LIES: „RÜCKGRAT“) ODER „GEISEL“ (FÜR DEN RUDERANTRIEB VON EINZELLERN).

JEDOCH BESCHRÄNKEN SICH DERLEI KREATIVITÄTEN NICHT AUF SCHÜLER. EINMAL WANKTE EIN DEUTSCH-BETREUUNGSLEHRER, BEREITS VON ZWERCHFELLKRÄMPFEN GESCHÜTTELT, IN DIE TEEKÜCHE UND ZEIGTE UNS EINEN PRÜFUNGSENTWURF SEINER REFERENDARIN. IHRE KLASSE SOLLTE WOHL IN EINEM TEXT DIE VERSCHIEDENE FÄLLE HERAUSFINDEN, WAS SICH DANN SO LAS: „BESTIMME IM FOLGENDEN ABSCHNITT DIE KASI!“ (EIN GAG FÜR FEINSCHMECKER…)

(S. 282-284)

Wie gesagt: Ich bin sehr froh darüber, dass man auch in Kreisen, wo man Schülerinnen und Schüler nur aus Studien und durch Einwegspiegel kennt, zu einer Erkenntnis kommt, die zum biologischen Grundwissen gehört: Primaten lernen durch Nachahmung adulter Artgenossen.

Daher sehe ich den momentanen Hype um die Digitalisierung des Schulwesens sehr gelassen: Mag ja alles nötig oder zumindest nicht schädlich sein – wobei eine Renovierung von Schulklos oder Lärmschutzmaßnahmen dringlicher sein könnten.

Ich sage nur: Bildung, die sich vor allem auf Bildschirme gründet, bleibt flach. Im Zentrum guten Unterrichts steht nicht das Bild, sondern das Vorbild, also eine Lehrkraft mit der entscheidenden Eigenschaft, die in der Ausbildung kaum eine Rolle spielt: Rhetorik. Unterrichts- und Erziehungserfolg steht und fällt mit der Frage, ob Kinder und Jugendliche an den Lippen der Lehrerin oder des Lehrers hängen – ob sie oder er die Fähigkeit besitzt, sprachlich überzeugend zu agieren: motivierendes Intro, klare Gliederung mit Schwerpunkten, übersichtliche Zusammenfassungen, passendes Sprachniveau, Modulation, Pausen und vieles mehr.

Und ja: Das alles wirkt am besten im heute so geschmähten „Frontalunterricht“. Stattdessen werden die Dienstanfänger durch einen Wust von Methoden geschickt, die sie zu „Lernorganisatoren“ degradieren, welche bei der Plakatgestaltung zuvörderst dafür zu sorgen haben, dass Klebstoff und Tesafilm nicht ausgehen.

So ist es der zufälligen Begabung überlassen, ob eine Lehrperson über persönliche Ausstrahlung und rhetorisches Geschick verfügt. Ich habe in meinem Leben solche Leute kennenlernen dürfen, die aber meist in ganz anderen Berufen tätig waren, oft nicht einmal ein Studium vorzuweisen hatten. Mein Standardsatz lautete stets: „Wenn ich eine Privatschule hätte, würde ich die Person sofort engagieren – die Fächer dürfte sie sich raussuchen.“

In meinem Buch berichtete ich von einem Lehrer, den ein Kollege noch erlebt hatte: Der brachte es fertig, in seinem Geschichtsunterricht mittels Papierkorb als Helm und dem Zeigestab als Speer derartig begeisternd antike Schlachten zu schildern, dass er einmal am Ende der Stunde von seiner Klasse mit Applaus überschüttet wurde. Mit der Hand schon an der Türklinke wandte er sich nochmal an seine Zöglinge: „Ach Kinder, ich mach das doch nicht für euch!“

Wen ich nun neugierig gemacht haben sollte: Mein Buch kann man immer noch bei mir bestellen. Die Damen und Herren Professoren werden es sicher nicht tun – mir fehlt ja der wissenschaftliche Überblick. Aber vielleicht hat ja der eine oder die andere von Ihnen Interesse:

http://www.robinson-riedl.de/lehrer-retter.htm

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