„Es wird immer gesagt:
Der Glaube versetzt Berge. Ich denke, das stimmt nicht ganz: Bagger versetzen
Berge.“
(Vince Ebert)
Momentan beschäftigen sich natürlich viele Einträge in
den sozialen Medien mit dem Brand
der Pariser Kathedrale Notre Dame.
Gestern las ich einen Facebook-Post,
über den ich mich derartig ärgerte, dass ich vergaß, ihn zu kopieren.
Beinahe wörtlich lautete er:
„Finde den Fehler!
Für den Neuaufbau einer Kirche werden hunderte Millionen
gespendet, aber für die Kinder in den Entwicklungsländern gar nichts!“
Nun gut. Dass ich seit über 30 Jahren der Deutschen Welthungerhilfe jährlich
einen vierstelligen Betrag zukommen lasse, ist offenbar eine Ausnahme…
Ich habe auch keine Lust, über die Sinnhaftigkeit dieser Spenden zu debattieren oder mich über die
Mängel der Entwicklungshilfe zu verbreiten. Das alles kann man selbstredend so
oder anders sehen.
Was mich allerdings bis zur Schmerzgrenze nervt, ist die
um sich greifende Unsitte, nun
wirklich an jeder an sich positiven
Nachricht einen Empörungsgrund
zu finden – auch wenn er fernab vom Thema liegt. „Whataboutism“ nannte man die Argumentationsweise der ehemaligen
UdSSR, jeder Kritik am eigenen System mit Vorwürfen an den Kapitalismus zu
begegnen:
Für mich gilt: Wenn ein bedeutendes Kulturdenkmal beschädigt wird, ist es prinzipiell eine
gute Idee, es zu restaurieren. (Die
Taliban mögen es anders sehen…) Mit den schlimmen Verhältnissen in der Dritten
Welt hat das genau nichts zu tun!
Das ist ein anderes Problemfeld, welches man gerne beackern darf. Mich
beschleicht allerdings der Verdacht: Die Zeitgenossen, welche ihren Weltverdruss mit zwei knackigen Sätzen
auf Facebook heraushauen, spenden vermutlich keine 5 Euro – egal wofür. Der
Grund ist klar: Hat ja doch alles keinen
Sinn in einer Welt, welche abgrundtief
schlecht und nicht mehr zu retten
ist (und schont das eigene Portmonee).
Offenbar glauben bei uns immer mehr, eine Meinung sei
umso überzeugender, mit je mehr verbalen Kraftausdrücken
man sie spickt. Ein Beispiel habe ich auf der FB-Seite meines Berliner
Tangofreunds Thomas Kröter gefunden,
den ich in seiner Wortwahl als sehr besonnen kenne. Und es geht bei ihm auch
überwiegend um Musik, Kultur und verwandte Themen. Dennoch fand ich in der Zeit vom 12.-17.4.19
bei den Kommentatoren seiner Seite folgende Formulierungen:
„dümmliche und
dürftige Ausrede für das Versagen“
„Gaffer-Kultur“
„Quatsch!“
„dummes Gelabere“
„Jeden Scheiß“
„Die Schrottflieger
der Bundeswehr“
„so ein Unsinn“
„Wenn nicht, dann
lieber erst einmal still schweigen!“
„bescheuerte Blödelei“
„gruseliges Sakrileg“
„peinlich“
„Es wird immer
blöder.“
„schäbig“
„missverstanden und
missbraucht“
„denunziert ihn“
„die Rüpel in allen
Verkehrsarten“
„ist ein Idiot“
„totally hypocrite“ („völlig
scheinheilig“)
„einen so
realitätsfernen Unsinn“
Bei den Debatten
ging es beileibe nicht um Weltuntergänge,
Neonazis oder andere Katastrophen, sondern um Themen wie defekte
Regierungsflieger, das Gesangstrio Peter, Paul & Mary, Greta Thunberg,
sexuelle Übergriffe, Rollenwechsel im Tango und das Fahrradfahren.
Kein Wunder, wenn Kröter
feststellt: „Es gibt Tonlagen, denen
möchten manche Menschen nicht ausgesetzt sein. Ich kann's verstehen“.
Nur ging es da nicht um die obigen Äußerungen, sondern um
diesen Artikel von mir:
Ich sei eben, auch dieses Zitat ist aus der obigen
FB-Debatte, ein „verbaler Scharfschütze“. Wahrscheinlich hat der Autor der Bezeichnung
sogar recht: Ich bin tatsächlich ein Freund pointierter Aussagen, die ich allerdings in einen ausführlichen Sachzusammenhang stelle – und dann
möglichst mit ironischem Florett kommentiere.
Im Internet gilt das wohl als unmännlich – wieso detailliert begründen und
sorgfältig zielen, anstatt mit der abgesägten Schrotflinte mit ein, zwei Sätzen ins Blaue ballern?
In einem der reichsten und sichersten Ländern der Welt
breitet sich immer mehr eine hysterische
Dauererregung aus: über Feinstaub an Silvester, dritte Klos in
Fastnachtsreden und Fleischfresser (ganzjährig).
Öfters verfolge ich auf Facebook naturheilkundliche Seiten. Gerade als Befürworter der
komplementären Medizin finde ich es oft entsetzlich, mit welcher Vorurteils-Beladenheit da „argumentiert“
wird. Lieblingsthemen sind unter anderem Impfungen
und Antibiotika, welche
natürlich Teufelswerk sind.
Vielleicht
sollte man sich einmal mit nüchternen Fakten wie der Lebenserwartung beschäftigen: 1875 (also in der Nähe des
Geburtsjahrs meiner Großmutter) lag sie in Deutschland bei knapp 40 Jahren – heute haben neugeborene
Jungen die Aussicht, etwa 78, Mädchen
zirka 83 Jahre alt zu werden. Und
das trotz Glyphosat , Stickoxiden und der bösen Pharmaindustrie!
Grund
sind natürlich vor allem die besseren (schul-)medizinischen
Behandlungsmöglichkeiten, nicht zuletzt die „bösen“ Antibiotika und Impfungen:
„Anfang des 20. Jahrhunderts waren
die häufigsten Todesursachen in der westlichen Welt Durchfall, Lungenentzündung
und Tuberkulose. Die größte Opfergruppe war unter fünf Jahre alt.
Man kann es nicht deutlich genug sagen: Erst Antibiotika haben die meisten,
einst tödlichen, bakteriellen Infektionen zu Bagatellen gemacht.
Infektionskrankheiten spielen im Reigen der häufigsten Todesursachen in der
industrialisierten Welt kaum mehr eine Rolle (ein bis fünf Prozent). In den
Entwicklungsländern sind sie dagegen mit bis zu über 40 Prozent nach wie vor
die häufigste Todesursache.“
Gegen
die Masern helfen diese Mittel
allerdings nicht, da sie von einem Virus ausgelöst werden. Impfen dagegen wäre sinnvoll, wenn es die autogen empörten Verschwörungstheoretiker nicht gäbe:
„Die Masern breiten
sich in diesem Jahr nach UN-Angaben weltweit sehr stark aus. Von Januar bis
Mitte April 2019 seien nach vorläufigen Daten 112.000 Fälle der schweren
Infektionskrankheit in 170 Ländern erfasst worden, teilte die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (…) mit. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres
seien 28.000 Fälle in 163 Staaten registriert worden, hieß es.
Die WHO macht einen
geringen Impfschutz für die starke Ausbreitung der Masern mitverantwortlich.
Viele Menschen in abgelegenen Gebieten oder in Konfliktregionen seien für
Impfteams schwer oder überhaupt nicht zu erreichen. Zudem habe das Vertrauen in
die Immunisierung in vielen Ländern abgenommen.“
Da
ist auf Facebook von den „armen Kindern
in den Entwicklungsländern“ nicht mehr die Rede – die können doch froh
sein, nicht geimpft zu werden…
Wahrscheinlich
liegt es an meinem Alter, dass ich bei solchen Themen immer wieder an meine Großmutter denken muss: Sie wuchs auf
einem winzigen Bauernhof im Erzgebirge auf, ihr Vater war im Nebenberuf
Gemeindearbeiter. Für mehr als 6 Klassen „Volksschule“ reichte das Geld nicht –
und selbst da kam sie manchmal zu spät, da sie vor dem kilometerlangen Fußweg
noch die Kühe auf die Weide treiben musste. Der Verlust eines ihrer beiden Söhne
im 2. Weltkrieg löste bei ihr eine schwere rheumatische Erkrankung aus. An
meinem Kinderwagen lernte sie wieder laufen.
Sie
war eine sehr kluge Frau, die heute sicherlich eine höhere Schule besucht und das als wertvolles Geschenk mit riesigen Möglichkeiten empfunden hätte. Ob sie daher
freitags den Unterricht zugunsten der Weltrettung
verlassen und stattdessen für die Rettung des Klimas demonstriert hätte, wage
ich zu bezweifeln. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie meine Erklärungen dazu
überhaupt verstanden hätte…
Daher
würde ich den alles überblickenden und verurteilenden Facebook-Schreibern gerne
raten: Fangt mit der Rettung der Welt
doch in eurer nächsten Umgebung an –
und zwar mit Optimismus, anstatt alle
Leser an der eigenen schlechten Laune
teilhaben zu lassen.
Und
speziell noch ein Tipp an die im
Tango häufigen Single-Männer: Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1993 beträgt
die Lebenserwartung geschiedener
Männer zirka 60, bei dauerhafter Partnerschaft dagegen etwa 71 Jahre!
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