Montag, 9. November 2020

Aus dem alltäglichen Schul-Wahnsinn I

 

Durch den neuen Shutdown komme ich endlich dazu, meine Schulunterlagen „auszumisten“, die seit meiner Pensionierung 2011 unberührt im geräumigen Bauch meines Schreibtisches ruhten. Dabei fand ich Etliches aus dem Bereich, den ich im Titel benannt habe.

Generell gilt natürlich: Ich darf weder die handelnden Personen namentlich kenntlich machen noch die Schule, wo sich der Irrsinn jeweils abgespielt hat. Ich kann nur versichern, die jeweiligen Institute ziemlich gut zu kennen.

Das Thema der heutigen Geschichte: Der Griff ins Klo

Nachfolgend der Wortlaut des Rundschreibens eines Direktorats-Mitarbeiters, der dort für „Disziplin-Angelegenheiten“ zuständig war. Offenbar hatte es um eine seiner Entscheidungen ziemlichen Ärger gegeben, weswegen (eher unüblich) alle Lehrkräfte über die Affäre aufgeklärt wurden. Ich zitiere:

Frau A, Gangaufsicht in der 1. Pause, bemerkte beim Betreten der Mädchen-Toilette in der Eingangsebene Zigarettengeruch. Zudem stellte sie fest, dass eine Toilette verschlossen war und sich darin Schülerinnen befanden. Sie forderte diese auf, die Tür zu öffnen.

Die Schülerinnen kamen dieser Aufforderung nach, betätigten aber zuvor die WC-Spülung. In der Toilettenschüssel fand Frau A eine Zigarettenkippe.

Frau A ging davon aus, dass die beiden Mädchen geraucht haben, ermittelte die Namen und schickte die beiden zur Schulleitung.

In der 2. Pause führte ich mit den beiden Mädchen ein Gespräch, bei dem sie mir eindringlich versicherten, dass sie nicht geraucht hätten. Sie gaben aber zu, versucht zu haben, eine Zigarettenkippe, die in der Kabine lag, herunterzuspülen, da sie befürchteten, in den Verdacht zu geraten, geraucht zu haben, wenn in ihrer Kabine eine Zigarettenkippe gefunden würde.

Ich erwiderte, dass die Indizien klar gegen sie sprächen und ihre Versicherung wenig glaubhaft sei.

In der Kabine hatten sie sich deshalb aufgehalten, weil sie alleine sein wollten, um über die von den Eltern (einer der beiden) bei der Schulleitung angestrebte Versetzung ihrer Tochter in eine andere Klasse zu sprechen.

Vor einer Entscheidung über eine Bestrafung musste ich mir erst von Frau A den Vorfall schildern lassen. In einem ersten kurzen Gespräch beschrieb Frau A den Vorfall wie oben dargestellt, bestätigte aber auch, dass sie die beiden Mädchen tatsächlich nicht unmittelbar mit den Zigaretten in der Hand rauchend angetroffen hat.

Am Nachmittag beriet ich mich wegen diese Vorfalls mit dem Schulleiter, und wir kamen beide zum Ergebnis, dass zwar die Indizien klar gegen die Aussage der beiden Mädchen sprachen, ein unmittelbarer Beweis aber nicht vorläge. Es sollte nochmal ein Gespräch mit Frau A stattfinden. Im Zweifelsfall sollte aber kein Verweis wegen Rauchens ausgesprochen werden.

Das zweite Gespräch mit Frau A erbrachte keine neuen Erkenntnisse. 

Weiter werden die Ereignisse am folgenden Tag geschildert:

Da sich die Beratungslehrerin, Frau B, mit einer der Schülerinnen bzw. ihrer familiären Situation schon öfters befassen musste, beriet ich mich mit ihr. Dabei eröffnete sie mir, dass die beiden Schülerinnen bereits bei ihr gewesen seien und glaubhaft versichert hätten, dass sie in der fraglichen Situation nicht geraucht hätten. In dem Gespräch wurde deutlich, dass sich die beiden Mädchen aufgrund ähnlich gelagerter familiärer Verhältnisse und ihrer momentanen psychischen Situation gefunden hätten und sie die möglicherweise bevorstehende Trennung in der Klasse zu diesem irrationalen Verhalten (Einsperren in der Toilette) veranlasst hat. 

Wir kamen zu dem Ergebnis, dass trotz der Indizienlage, aber aufgrund des fehlenden Beweises kein Verweis für das Rauchen ausgesprochen werden sollte. Vielmehr sollten die beiden Mädchen durch Gespräche mit der Schulpsychologin und mit ihrer Hilfe zu einem für den Klassenverband und gegenüber den Lehrkräften dieser Klasse verträglicheren Verhalten veranlasst werden. Außerdem sollte dieser Vorfall bei einem mit den Eltern … (einer der Schülerin), der Schulpsychologin, der Beratungslehrerin und dem stellvertretenden Schulleiter bereits anberaumten Gespräch thematisiert werden. (Dieses Gespräch hat am … stattgefunden). 

Den beiden Mädchen wurde an diesem Vormittag das weitere Vorgehen eröffnet. Allerdings erklärte ich ihnen unmissverständlich, dass ich nach wie vor ihre Aussagen für nicht sehr glaubhaft halte und nur mangels einer eindeutigen Beweislage kein Verweis ausgesprochen wird. 

Im Zusammenhang mit diesem Vorfall wurden mit folgenden Personen Gespräche geführt:

·         Frau A wurde die obige Entscheidung zur Kenntnis gebracht und ausführlich erläutert.

·         Der Personalrat sprach wegen dieses Vorfalls auf Wunsch aus dem Kollegium  bei der Schulleitung vor. Er wurde über die Hintergründe der Entscheidung informiert

·         Frau C (meines Wissens die Klassenleiterin) wurde von der Schulleitung ebenfalls über die Hintergründe der Entscheidung informiert. Sie erklärte, dass die Entscheidung der Schulleitung im Kollegium auf Unverständnis stößt und bat nach Darlegung des Sachverhaltes darum, das gesamte Kollegium zu informieren, was hiermit geschieht.

Was nicht im Rundschreiben steht. 

Frau A war eine junge Kollegin, die durch die Entscheidung der Schulleitung einen heftigen psychischen Absturz erlitt. Klar – wenn man als Lehrkraft bei einem Fehlverhalten von Schülern einschreitet und dann auf diese Weise alleingelassen wird, ist die eigene Autorität (soweit man sich schon eine erarbeitet hat) schwer angeschlagen. 

Es gab daher wohl ziemlichen Ärger im Kollegium, was nach meiner Erinnerung auch zu einer heftigen Debatte in der Lehrerkonferenz führte. Natürlich ohne dass sich an der Entscheidung etwas änderte.

Mit den beiden Schülerinnen gab es schon vorher immer wieder Ärger, was ja auch im Rundschreiben anklingt. Daher bin ich mir ziemlich sicher: Die beiden haben gelogen. Dennoch: Das Rauchen konnte man ihnen nicht nachweisen – zumal es bei einer Zigarettenkippe im Klo ja noch fraglich gewesen wäre, ob nun beide geraucht hatten oder nur eine der Damen. Und auf die Idee, die Mädels mal ihre Taschen ausräumen zu lassen, um so vielleicht Zigaretten oder ein Feuerzeug zu entdecken, kam von den beteiligten Geistesgrößen niemand. 

Und leider werden junge Lehrkräfte nicht dazu angehalten, selbstständig zu entscheiden. Ein Verweis ist nach dem bayerischen Schulrecht die mildeste Ordnungsmaßnahme – und die einzige, über die jede Lehrkraft allein entscheiden kann. Ich hätte die beiden Schülerinnen daher nicht ins Direktorat geschickt – das dann einsetzende Theater, bei dem selten Sinnvolles herauskommt, habe ich oft genug erlebt. 

Von mir hätten die Schülerinnen einen Verweis erhalten – und zwar nicht wegen des Rauchens, sondern, weil sie sich zu zweit in eine Kabine gesperrt hatten. Und das kann man eben genau deshalb nicht dulden, weil sie dort ohne Zugriffsmöglichkeit alles Mögliche treiben konnten.

Stattdessen wurde nun aber wirklich der gesamte Apparat in Gang gesetzt, der an einer höheren Schule zum Austausch sinnloser Statements zur Verfügung steht. Dazu gehört auch das völlig zwecklose Herumpsychologisieren. Auch wenn Beratungslehrerinnen und Schulpsychologinnen das anders sehen: Keine Schule kann etwas an den „schwierigen häuslichen Verhältnissen“ ändern. Das schafft oft nicht mal das Jugendamt mit weit stärkeren Eingriffsmöglichkeiten. Was das Bildungssystem liefern kann, sind feste Strukturen und berechenbare Reaktionen. Genau daran hat es aber bei dem ganzen Eiertanz gefehlt. 

Ich habe das mal in Arbeitsstunden umgerechnet: 

Frau A: 6 Std.

Frau B: 3 Std.

Frau C: 1 Std.

Schulpsychologin: 3 Std.

Schulleiter: 3 Std.

Stellvertretender Schulleiter: 1 Std.

Direktoratsmitarbeiter für Disziplinfragen: 6 Std.

Personalrat: 4 Std.

Lehrerkonferenz (50 Mitglieder): 25 Std.

Summe: 52 Std. 

Bei einem Stundenlohn von 30 € hat der „Griff ins Klo“ also über 1500 € gekostet! 

Nein, Scherz: Wir werden ja pauschal entlohnt. Waren also unbezahlte Überstunden 

In einem funktionierenden Bildungssystem hätte sich die Affäre so gerechnet:

Frau A (kurzes Gespräch mit den Schülerinnen, Ausstellung der Verweise): 1 Std.

Evtl. Elterngespräche: 1-2 Std.

Eine professionelle Routineentscheidung hätte man also für unter 100 € bekommen!

Dies also war der erste Beitrag zum „alltäglichen Schuwahnsinn“. Freuen Sie sich auf die nächste Folge, bei der es um Lärm im Schulhaus geht!

P.S. Ohne zu wissen, woran ich gerade arbeite, schickte mir meine Illustratorin (www.tangofish.de) gestern ihr neuestes Werk mit dem Titel „Nicht hineinziehen lassen, gell?!" Welch glückliche Fügung!

 



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