Montag, 12. Oktober 2015

Unversandter Brief an einen ungehaltenen Vater



Beim „Ausmisten“ meiner Schulunterlagen fiel mir der folgende Brief in die Hände. Er bezieht sich auf die seinerzeitige Beschwerde eines Vaters wegen einer mündlichen Note in Biologie für seine Tochter in der K 12. Dass solche Vorgänge heutzutage kaum einmal in einer sachlich-entspannten Atmosphäre verlaufen, ist Berufsalltag. Die Schmutzkübel, die damals über mich ausgegossen wurden, sind allerdings schon rekordverdächtig.

Die Tochter wechselte anschließend vom Grund- in den Leistungskurs Biologie, in Mathematik umgekehrt. Ein Gespräch, das ich kurz darauf mit ihr führte, ergab, dass sie die Sache nicht halb so dramatisch empfunden hatte wie ihr Vater. Auch der Kurswechsel, so versicherte sie mir, ginge nicht auf diesen Vorfall zurück, sondern auf ihre Probleme mit Mathematik.

Ich schrieb damals dem Vater einen persönlichen Brief, den ich aber erst abschicken wollte, wenn seine Tochter das Abitur bestanden hatte und somit keine Besorgnis meiner „Befangenheit“ mehr bestand. Irgendwie konnte ich mich dann doch nicht dazu entschließen – die im Schreiben erwähnten Konsequenzen jedoch habe ich gezogen. Welche? Nun, lesen Sie selbst:    

Sehr geehrter Herr …,

ich schreibe Ihnen diesen Brief bereits jetzt (…), werde ihn aber erst abschicken, wenn (Ihre Tochter) ihr Abiturzeugnis erhalten hat. Der Grund: Ich möchte jede Möglichkeit vermeiden, dass Ihre Tochter oder auch die Mitschüler ihres Jahrgangs in irgendwelcher Weise in diese Auseinandersetzung hineingezogen werden bzw. die geringsten Zweifel an meiner dienstlichen Unvoreingenommenheit ihnen gegenüber entstehen könnten. Diese Verantwortung hinsichtlich meiner Schüler hat mich auch damals davon abgehalten, Ihnen auf Ihr unglaubliches Verhalten die entsprechende Reaktion zukommen zu lassen. Die Gefahr, dass dies das Klima an der Schule bzw. in den entsprechenden Kursen vergiftet hätte, war mir einfach zu groß. Auch dass Sie sich verantwortungslos verhalten haben, entbindet mich nicht von dieser Pflicht.

Hinzu kommt, dass ich mit (Ihrer Tochter) oder ihren Mitschülern nicht wirklich ein Problem hatte und habe. Selbst wenn wir einmal unterstellen, ich hätte Ihre Tochter damals wirklich zu hart, zu ungeduldig oder inhaltlich nicht adäquat befragt: Solche Dinge kommen an allen Orten, wo über tausend Menschen täglich miteinander umgehen müssen, in der Hektik des „Betriebs“ vor – und jeder Pädagoge (der es länger als einige Monate an der Schule aushält) ist geradezu darauf angewiesen, in solchen Fällen Rückmeldungen zu erhalten, damit nicht irgendwelche störende Eindrücke bestehen bleiben, die keinem der Beteiligten weiterhelfen. Ich hätte mir damals gewünscht, (Ihre Tochter) oder andere Schüler hätten mich möglichst bald auf ihre Sichtweise der Ereignisse hingewiesen, dann hätte man in Ruhe darüber reden und das Problem höchstwahrscheinlich klären, mindestens aber verringern können.

Dies war dann ja auch letztlich das Ergebnis der Unterredung mit Ihrer Tochter, bei dem die Sache ziemlich relativiert, insbesondere mir keinerlei „böse Absicht“ unterstellt wurde. Und bei ihren Mitschülern im Kurs hatte ich vorher und nachher nicht im Geringsten den Eindruck einer gespannten oder gar „verängstigten“ Atmosphäre. Übrigens entspricht es der Lebenserfahrung, dass es stets „selektive Wahrnehmungen“ gibt: Wenn beispielsweise Schüler aus dem Unterricht erzählen, werden sie die Schwierigkeit des Stoffes oder die „Strenge“ des Lehrers mehr betonen als die Tatsachen, dass man hätte besser aufpassen, sich gründlicher vorbereiten oder sich kooperativer verhalten sollen. Dies soll kein Vorwurf sein, sondern nur ein Hinweis auf allgemein menschliche Tendenzen.

Womit ich damals, gelinde gesagt, ein Problem hatte und auch heute noch habe, sind ausschließlich Sie, Herr (…) – und es würde für Ihren Mut sprechen, wenn Sie es bei dieser bilateralen Auseinandersetzung beließen und nicht irgendwelche Dritten, die letztlich keine Schuld haben, wieder als Waffe missbrauchen würden.

Um nicht ständig Details zitieren zu müssen, lege ich Ihnen meine Gedächtnisprotokolle zu den damaligen Ereignissen vor – übrigens hat mir noch niemand gezeigt, was Sie diesbezüglich zu Papier gebracht und dem Schulleiter vorgelegt haben. Soviel schon einmal zum Thema „Fairness“ – später noch mehr.

Ich stelle zunächst einmal fest, dass Sie damals offenbar von vornherein entschlossen waren, jemanden, den Sie überhaupt nicht persönlich kannten, den Sie am Tag der Sprechstunde wohl zum ersten Mal überhaupt sahen, in der gehabten Weise mit Attacken zu überziehen. Dies war Ihr erster und entscheidender Fehler, denn hätten Sie mich gekannt, so wäre Ihnen klar gewesen, dass ich Ihnen einen derartigen Affront nicht durchgehen lasse.

In Ihrem Schreiben vom (…) baten Sie mich um einen „Besprechungstermin“, den ich Ihnen noch am selben Tag ermöglichte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen der Sinn dieses Begriffs auch nur ansatzweise klar war. Er bedeutet nämlich, dass man wenigstens grundsätzlich bereit ist, sich auf die Darstellung, die Argumente des Gesprächspartners einzulassen, versucht, die Sache auch einmal von der Seite des Gegenübers zu sehen. Stattdessen führten Sie mit mir ein Verhör, in dem Sie bestimmten, wer wann und wozu etwas zu sagen habe, maßten sich berufliche Kenntnisse an, über die Sie in keiner Weise verfügen, ja vermieden nicht einmal die Geschmacklosigkeit, einen auf die Verfassung vereidigten Beamten nach Grundgesetzartikeln auszufragen – und der anmaßende, impertinente Tonfall passte dazu. Ihre mehrfache Einlassung, Sie würden mir sowieso nichts glauben, sondern seien „wütend und zornig“ auf mich, disqualifizierte Sie als Gesprächspartner natürlich vollends. In der Summe steht für mich fest, dass es Ihnen nicht um die Klärung oder gar Lösung von Problemen ging, sondern um Einschüchterung, um den Aufbau einer Drohkulisse. Dies, lieber Herr (…), war Ihr zweiter Fehler, denn hätten Sie mich gekannt, so wäre Ihnen die Aussichtslosigkeit eines solchen Vorhabens klar gewesen.

Da Sie im Detail nicht wirklich wichtige oder harte Fakten hinsichtlich der Notengebung vorweisen konnten, verlegten Sie sich auf den atmosphärischen Bereich: Ich hätte Ihre Tochter „in ihrer Würde demontiert“, sie „in die Enge getrieben“, „zum Deppen gemacht“. Generell sei ja von mir bekannt, dass die Schüler „Angst vor mir hätten“, sich „nichts zu sagen trauten“. Ich weiß nicht, ob es Sie überhaupt noch erreicht, dass Sie damit (außer sexuellen Verfehlungen) die schlimmsten Vorwürfe erheben, die man einem Lehrer gegenüber ins Feld führen kann – aber angesichts des sonstigen „Vernichtungsfeldzugs“ gegen mich fürchte ich: Es war Ihnen klar. Wenn Sie wirklich davon überzeugt waren, wieso haben Sie dann nicht eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich erhoben, namentliche Aussagen von Mitschülern eingeholt oder sind wenigstens einmal als Gast in meinen Unterricht gekommen, wie ich es Ihnen angeboten habe? Die Antwort ist für mich klar: Dann hätten Sie Ihre Vorwürfe beweisen bzw. überprüfen müssen, und es wäre herausgekommen, dass diese haltlos sind. Wie passt es denn zur Schwere der Vorhaltungen, wenn (Ihre Tochter) mir gegenüber erklärt, sie wäre in meinem Kurs geblieben, wenn der Wechsel des Leistungskurses nicht eine andere Lösung erzwungen hätte? Kann das dann alles so schlimm gewesen sein? In der Summe steht für mich fest, dass es Ihnen nicht um die Wahrheit ging, sondern darum, mich mit Dreck zu bewerfen.

Es ist ja so „einfach“, irgendwelche Gerüchte und Vermutungen einfach zur Tatsache zu erklären, wenn es einem gerade in den Kram passt! Sollte ich das auch einmal versuchen? Es ist ja schon ungewöhnlich, dass eine fast achtzehnjährige Kollegiatin emotional derartig abstürzt, wenn sie sich einmal in einem Grundkursfach nicht adäquat geprüft und bewertet fühlt (wobei ich einmal, trotz Ihres sonstigen Verhaltens, Ihre dramatische Schilderung der Wirkung auf Ihr Kind als zutreffend unterstelle – ich war ja nicht dabei). Wenn dem so war, dann erscheint mir überhaupt nicht plausibel, dass ich in zwei Unterrichtsstunden plus einer knappen Viertelstunde mündlicher Prüfung eine solche Reaktion provoziert haben könnte. Es gibt andere Menschen, die viel länger auf (Ihre Tochter) einwirken, und da, Herr (…), stehen Sie an der Spitze der „Verdächtigen“ – auch da Sie ihr gar so selbstverständlich Dinge aus der Hand nahmen, um die sich eine beinahe Volljährige gemeinhin eher selber kümmert! Ich könnte mir den „Einbruch“ Ihrer Tochter jedenfalls durchaus so erklären, dass sie unter einer riesigen Erfolgserwartung steht. Fühlt sie sich vielleicht von Ihnen bedrängt und unter Druck gesetzt in der Hinsicht, sie dürfe niemals versagen, müsse stets exzellente Noten bringen, dürfe ihren Vater nicht enttäuschen? Soll sie gar die Erfolge einheimsen, welche Ihnen im Leben versagt geblieben sind?

Sie sollten den Unterschied beachten, dass ich gerne zugebe, hier nur zu spekulieren – denn beweisen kann ich das alles nicht. Sie dagegen „verkaufen“ die entsprechenden Vermutungen und Verdächtigungen als Tatsachen!

Kein Lehrer (der diese Berufsbezeichnung halbwegs verdient) wird es leicht nehmen, wenn ein Schüler in Zusammenhang mit seinem Unterricht traurig und frustriert ist oder gar noch heftig weint (laut Aussage des Vaters tat sie das zu Hause). Nur sollte man sich auch noch in einem anderen Zusammenhang mit der Möglichkeit befassen, dass auch Lehrkräfte zu den menschlichen Wesen zählen: Während der ganzen Affäre hat keiner der beruflich Beteiligten auch nur ansatzweise nach meiner physischen und psychischen Situation gefragt. Daher muss ich mich wohl selber darum kümmern. Nur in Kürze zur Information: Vor einem Jahr wurde bei mir eine Krebserkrankung diagnostiziert, die mit belastenden Untersuchungen und Therapien (u.a. sechs Chemozyklen) verbunden war. Obwohl mir meine Ärzte dringend rieten, für längere Zeit nicht arbeiten zu gehen, bin ich bis auf wenige Fehltage beruflich aktiv geblieben, denn ich wollte keine Mehrarbeit für die Kollegen, wollte meinen Leistungskurs selber zum Abitur führen, nicht als Klassenleiter ausfallen u.v.m. Ich war sehr stolz darauf, dass ich die ganzen Schwierigkeiten meisterte –  und dabei hat mir der Beruf sicherlich auch geholfen.

Ihr Auftritt damals in der Sprechstunde hat bei mir zu einem totalen Absturz geführt: Mit zusammengebissenen Zähnen die ohnehin schon großen gesundheitlichen und schulischen Belastungen und Zumutungen zu ertragen und sich dann noch derart infamen Anwürfen ausgesetzt zu sehen – das war mir zuviel. Ich beschloss am gleichen Tag, die Möglichkeiten meiner Schwerbehinderung auszuschöpfen und zum frühestmöglichen Zeitpunkt in den Ruhestand zu gehen. Nicht, dass Sie nun glauben, Sie wären hierfür der Hauptgrund oder auch nur eine wesentliche Ursache – so wichtig sind Sie nicht. Aber irgendwann kommt halt der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Wie soll man sich auch gegen solche Rufmorde wehren? Selbst wenn nichts beweisbar ist und sich vieles sogar widerlegen lässt: „Der schüchtert doch immer wieder seine Schüler ein“… „Da war doch erst letztes Jahr so ein Fall mit einer Kollegiatin!“ …
„Die hat doch wegen ihm den Kurs wechseln müssen…“ Es ist so leicht, Schmutz aufzurühren und so schwer, alles wieder sauber zu bekommen – und es ist genauso ekelhaft, wie es klingt. Unter solchen Bedingungen sehe ich keinen Sinn mehr darin, meine 34-jährige Arbeit noch länger fortzusetzen.

Sie, Herr (…), müssen jedenfalls von mir den Vorwurf entgegennehmen, dass Sie versucht haben, mich unter Druck zu setzen und in die Enge zu treiben, meine Würde und mein berufliches Ansehen zu demontieren, mich zu einem „Monster“ zu machen, das seine Schüler drangsaliert. Sollten Sie hierüber oder zu Ihren Anwürfen von damals juristische Auseinandersetzungen wünschen, steht Ihnen meine Anwaltskanzlei hierzu gerne zur Verfügung. Ansonsten möchte ich in meinem restlichen Leben von Ihnen nichts mehr hören und sehen.


In der Annahme, dass dies von Ihnen nur als „Floskel“ verstanden würde, verzichte ich auf eine Grußformel.

Gerhard Riedl

P.S. Nach dem fulminanten Auftritt, den der Herr Papa in meiner Sprechstunde hinlegte, beschwerte er sich sofort schriftlich über mich bei meinem Chef, von welchem ich umgehend eine „Vorladung“ erhielt. Vorausahnend hatte ich bereits eine schriftliche Stellungnahme zu den Ereignissen formuliert, die ich ihm bei unserer Unterredung anbot. Seine Reaktion werde ich nie vergessen: „Nein, ich möchte das erst einmal mündlich von Ihnen hören“ (wahrscheinlich, um meine "Glaubwürdigkeit" zu beurteilen). Passend dazu nahm mein Schulleiter die Pose eines „Richters“ ein, welcher nun den Streit der Parteien zu judizieren habe. Wahrlich, ein „Kollege“ saß mir da nicht gegenüber!

Natürlich kam bei der Sache genau nichts heraus – wohl vor allem, weil nichts dran war. Bis heute kenne ich übrigens weder das Beschwerdeschreiben des Vaters noch habe ich je eine Rückmeldung meines Chefs erhalten, wie er denn nun die Sache abschließend sehe.

Fazit: Mir blieb die Rufschädigung plus zirka zehn Stunden Mehrarbeit für Gespräche und Stellungnahmen – übrigens wegen der Note Vier (05 Punkte). Meine derzeitige, recht üppige Pension sehe ich daher durchaus als nachgeholte „Schmutzzulage“…      

3 Kommentare:

  1. Danke! Und Gratulation dass Sie das alles gut überstanden haben. Ich, ein ehemaliger sehr fauler Schüler (unter anderem in einem Bio-Grundkurs) hatte auch oft schlechtere Noten, jedoch habe ich Sie stets als fair, transparent und kompetent erlebt. Sogar Humor war manchmal dabei.
    Mit freundlichem Gruß,
    Gustl Buheitel der gerade für sein Staatsexamen lernen sollte.

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    1. Lieber Gustl Buheitel,

      als so faul habe ich Sie nicht in Erinnerung - eher als freundlich und lustig.
      Danke für Ihre wertschätzenden Worte und viel Erfolg beim Staatsexamen!

      Ihr Gerhard Riedl

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  2. Der Text, den ich vor gut 24 Stunden auf mein Blog gestellt habe, bewirkte eine ungeheure Resonanz: Hier sind es schon über 400 Zugriffe, die Ankündigung auf Facebook wurde bislang von knapp 1500 Lesern gesehen. Dazu erhielt ich - auf verschiedenen Wegen - etliche sehr freundliche Kommentare zu meinem früheren Berufsleben.

    Herzlichen Dank an alle! Es würde mich freuen, wenn sich über das Thema "Erziehungspartnerschaft" (also die Kooperation von Eltern und Lehrern) einmal eine ernsthafte Debatte ergeben würde.

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